Amazonas – GegenStrömung https://www.gegenstroemung.org/web Tue, 16 Mar 2021 08:22:40 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Schwerer Schlag für Sojaeisenbahnpläne Ferrogrão in der Tapajós-Region https://www.gegenstroemung.org/web/blog/schwerer-schlag-fuer-sojaeisenbahnplaene-ferrograo-in-der-tapajos-region/ Tue, 16 Mar 2021 08:22:34 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2189 Die Reduzierung des Gebietes des Jamanxim-Nationalparks in Pará, um den Bau der Eisenbahnlinie Ferrogrão zum Transport von Soja aus vor allem Mato Grosso an die Überseehäfen am Amazonas zu ermöglichen, per einfacher Präsidialverordnung war nicht gesetzmässig. Oberster Richter Alexandre de Moraes argumentiert dabei mit „Wirksamkeit des Grundrechts auf eine ökologisch ausgewogene Umwelt“. Oberster Procurador der Republik, Augusto Aras, widerspricht und sieht „Ökologie und Ökonomie in Harmonie“ bei dem Monsterprojekt, das schwere Auswirkungen auf indigene Völker in der Tapajós-Region hätte.

Von Christian Russau

Es ist ein schwerer Schlag für alle Befürworter:innen des Ferrogrão-Eisenbahntrassenprojektes in der Tapajós-Region. Der Richter Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshof (STF) setzte die Wirksamkeit des Gesetzes 13.452/2017 vorläufig aus, das aus der Provisorischen Maßnahme (MP) 758/2016, einer Präsidialverodrnung des damaligen Präsidenten Michel Temer aus dem Jahre 2016, hervorgegangen war und das die Grenzen des 2006 eingerichteten Nationalparkes Jamanxim in Pará um 862 Hektar einfach reduzierte. Diese geographische Reduzierung erfolgte, um im Nationalpark eine diesen durchschneidene Trasse zu ermöglichen, entlang derer dann die neue Eisenbahnlinie Ferrogrão gebaut werden sollte. Der Richter de Moraes wies in seiner Entscheidung darauf hin, dass die Gebietsänderung in einem Naturschutzgebiet höchster Kategorie nicht durch eine einfache vorläufige Maßnahme hätte vorgenommen werden können. Dazu hätte es, laut de Moraes, eines Gesetzes bedurft, eine einfache Präsidialverordnung im Form einer Medida Provisória reiche dazu nicht aus. Damit folgte der Oberste Richter einer Beschwerde der Partei für Sozialismus und Frieden, PSOL.

Richter de Moraes argumentierte in seiner Urteilsverkündung mit den irreversiblen Schäden an der Natur, die sich unwiderbringlich einstellen würden, sollte die Reduzierung des Naturschutzgebietes Jamanxim weiterhin Gültigkeit haben und die Planungen für die Baumaßnahmen für die Eisenbahntrasse Ferrogrão vor Ort beginnen. Richter Alexandre de Moraes erklärte zudem, dass nach der Bundesverfassung die Umwelt ein gemeinsames Gut des Volkes sei und alle legislativen, administrativen und gerichtlichen Mittel, die für deren effektiven Schutz notwendig seien, eingesetzt werden müssten. Richter Alexandre de Moraes erklärte wörtlich: „Bekanntlich wurde der Umwelt in ihrer Gesamtheit vom Gesetzgeber besondere Aufmerksamkeit geschenkt, der der öffentlichen Gewalt und der Gemeinschaft die Pflicht auferlegt, die Umwelt für die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu schützen und zu erhalten (Art. 225, caput der Bundesverfassung). In der Tat hat die Bundesverfassung von 1988 der öffentlichen Hand als Verpflichtung auferlegt, die Verteidigung, den Erhalt und die Gewährleistung der Wirksamkeit des Grundrechts auf eine ökologisch ausgewogene Umwelt [zu garantieren, da die Umwelt und Natur] ein Gut zur gemeinsamen Nutzung durch das Volk und wesentlich für eine gesunde Lebensqualität“ seien, so Richter de Moraes. Die Umwelt solle daher, so Richter de Moraes, als gemeinsames Erbe der gesamten Menschheit betrachtet werden, um deren vollen Schutz zu gewährleisten, insbesondere in Bezug auf die zukünftigen Generationen.

Damit hat der Richter Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshof (STF) ein in der Tat starkes Signal für den Erhalt der Umwelt in Brasilien gesetzt, auch wenn der Fall nun an das Plenum des Obersten Gerichtshofes geht, wo noch unklar ist, wie sich die Mehrheit der Richter:innen entscheiden wird. Brasiliens Oberster Procurador da República, der Chefankläger der Republik, Augusto Aras, jedenfalls forderte den Obersten Gerichtshof umgehend auf, der Entscheidung von Richter de Moraes nicht zu folgen. „Die Verkleinerung von 0,054% des Jamanxim-Nationalparks, um Studien für die Installation einer Eisenbahnlinie zum Transport von Getreide (Ferrogrão – EF 170) zu ermöglichen, entspricht dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung als Faktor des Gleichgewichts zwischen Ökonomie und Ökologie“, so Aras in Bezug auf die Ende 2016 von Präsident Temer erlassene Präsidialverordnung zur Reduzierung des Gebietes des Jamanxim-Nationalparkes. Der Kampf um Ferrogrão geht also weiter, aber er ist auch Teil eines größeren gesellschaftlichen Disputs in Brasilien um Narrative, welchen Stellenwert nehmen Umwelt und Natur und Rechte ein im Gegensatz zu Ökonomie und Entwicklung.

Nicht Teil von Richter Alexandre de Morais juristischer Argumentation waren die Fragen nach der Verletzung indigener Rechte durch den geplanten Bau von Ferrogrão. Die indigenen Munduruku beispielsweise setzen sich vehement gegen die Eisanbahntrassenpläne von Ferrogrão zur Wehr. Auch die Bundesstaatsanwaltschaft hat im Oktober 2020 den Stopp des Ausschreibungsverfahrens für die geplante Bahnlinie Ferrogrão gefordert. Die zum Transport von vor allem Soja aus der Boomregion Sinop im Bundesstaat Mato Grosso an die Flusshäfen im Bundesstaat Pará vorgesehene Bahnlinie würde nach Erkenntnissen der Bundesstaatsanwaltschaft 48 von der Verfassung geschützte indigene Territorien durchschneiden und somit die verbrieften Rechte der Indigenen verletzen. Gemäß der bei der Bundesstaatsanwaltschaft eingereichten Anzeige gegen die das Projekt vorantreibende Bundesregierung, weigere sich die Regierung und die Behörden, Konsultationen mit den betroffenen Völkern durchzuführen, selbst nachdem sie sich verpflichtet habe, das Recht auf vorherige, freie und informierte Konsultation gemäß dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu respektieren. Die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft war eingereicht worden im Namen des Instituto Socioambiental (ISA), der Iakiô-Vereinigung, des Volkes der Panará, der Xingu-Vereinigung für indigenes Land (Atix), des Raoni-Instituts, des Volkes der Kayapó, und des Kabu-Instituts sowie im Namen des indigenen Volkes der Kayapó Mekragnotireo. Über diese von der Bundesstaatsanwaltschaft beim brasilianischen Bundesrechnungshof TCU eingereichte Klage wurde bisher noch nicht verhandelt.

Das Ferrogrão-Bahnlinienprojekt ist seit Jahren eines der Lieblingsinfrastrukturprojekte von Brasília als auch der Soja-Farmer:innen in Mato Grosso. Für die derzeitige Boomregion beim Soja – dem zentralbrasilianischen Bundesstaat Mato Grosso – gibt es seit der Regierung von Dilma Rousseff Pläne für weitere Straßen-, Wasserstraßen- und Bahnbauprojekte. In der Vergangenheit wurde das Soja meist per LKW an die Verladeterminals der Häfen im Südosten des Landes, Santos und Paranaguá, geliefert. Als die Autobahn BR-163 auch gen Norden, Richtung Miritituba und Santarém, asphaltiert wurde, sparten sich die LKWs rund 1.000 Kilometer Strecke, im Durchschnitt eine Ersparnis von zwei Tagen. Als dritten LKW-Transportweg gibt es derzeit noch die Landesstraße MT-235, die gen Westen nach Porto Velho am Rio Madeira führt, wo das Soja bei den Terminals in Schiffe verladen wird, die die Ladung zu den Überseehäfen am Amazonas transportieren.

Für die Soja-Farmer:innen sind die Logistikkosten die entscheidende Stellschraube zur verstärkten Eroberung des Weltmarkts für brasilianisches Soja. 2014 betrug der Logistikpreis je Tonne Soja auf der Strecke Mato Grosso – Paranaguá/Santos 150 US-Dollar pro Tonne, während bei vergleichbarer Transportstrecke der Vergleichswert für US-amerikanische Farmer:innen des Mittleren Westens bei einem Viertel dessen läge, so ein damaliger Bericht bei „Bloomberg“.

Doch diese Straßen erhöhen erwiesenermaßen den Druck auf die Waldflächen in Amazonien. Márcio Santilli vom Instituto Socioambiental (ISA) sprach bereits 2017 angesichts dieses Amazonien durchziehenden Straßennetzes von dem „zerhackten Amazonien“: Diese Bundes- und Landesstraßen stellen die größte Bedrohung für den Erhalt Amazoniens dar: 80 Prozent aller Rodungen in Amazonien erfolgen Erhebungen zufolge entlang eines 30 Kilometer breiten Streifens entlang der asphaltierten Straßen.

Gebetsmühlenartig beklagen Mato Grossos Farmer:innen die Kosten der mehrtägigen LKW-Fahrten auf der BR-163 gen Südosten sowie die Wartezeiten zur Entladung an den oft ausgebuchten Atlantikhäfen von Santos und Paranaguá, was teils mehrere Wochen Stillstand bei LKW und Fahrer:in verursache. Die BR-163 gen Norden nach Miritituba sei auch immer viel befahren, die derzeitigen Entlade- und Beladekapazitäten nahezu ausgeschöpft, was alles zu Verzögerungen führe, und der Weg nach Westen über die MT-235 sei auch ein geographischer Umweg, wenn das Soja von dort auf Kähnen Richtung Nordosten am Amazonas verbracht werde. Nach Vorstellungen von Politik und Soja-Farmer:innen sollen es Wasserstraßen und Bahntrassen richten.

Infolge der Asphaltierung der Bundesstraße BR-163 gen Norden sind die Frachtkosten bereits um 34 Prozent je Tonne Soja gesunken. Bei den geplanten schiffbaren Wasserstraßen an den Flüssen Tapajós, Teles Pires und Juruena — Wasserstraßen benötigen Schleusen zur Überwindung der Stromschnellen, dazu werden Staudämme errichtet und der Flusslauf und dessen Höhe nivelliert, was zu stehenden Gewässer führt, in den Fischpopulationen in Gefahr geraten, etc…) werden zukünftig gar Kostenersparnisse von weiteren 41 Prozent je Tonne Soja erhofft, was den Druck auf Landflächen in der Region noch weiter erhöhen wird. Auch gegen diese Laufen die Flussanwohner:innen, indigene Völker und andere traditionelle Gemeinschaften Sturm gegen diesen geplanten Bau von „Wasserautobahnen“, die „Entwicklung“ bringen sollen, aber meist Zerstörung von Umwelt und Lebenswelt der betroffenen lokalen Anwohner:innen der amazonischen Flüsse bedeutet.

Weitere Pläne sehen also den Bau von Bahntrassen vor. Und hier kommt Ferrogrão ins Spiel. „Ferrogrão“ heißt einer der geplanten Süd-Nord-Bahnkorridore von Sinop in Mato Grosso nach Miritituba in Pará am Tapajós, von wo aus über den Amazonas der Atlantikanschluss an den Weltmarkt gewährleistet werden solle. „Ferrogrão“ soll den Planer:innen zufolge dem Transport von Soja und Getreide aus Mato Grosso dienen, aber auch für Erzzüge nutzbar sein.

Egal, ob Straße, Wasserstraße oder Bahn: Im Zuge solches Infrastrukturausbaus würden dann auch die Soja-Terminals massiv ausgebaut werden, so Politik und Farmer:innenlobby unisono: So sollen die Soja-Terminals von Santarém von 1,8 auf 8 Millionen Tonnen im Jahr, die von Porto Velho von 4 auf 7 Millionen Tonnen im Jahr und Miritituba von 3,5 auf 32 Millionen Tonnen bis Mitte der 2020er Jahre fast verzehnfacht werden. Ein Alptraum für die Savannenlandschaft des Cerrado und Amazonien sowie dessen Bewohner:innen.

All dieser Ausbau der Infrastruktur „zerhackt“ Amazonien, erhöht den Druck auf die vom Extraktivismus bedrohten Territorien und wird in Zukunft noch mehr Sojamehl in die EU und auch für Deutschlands Tiermastanlagen ermöglichen, da die Kostensenkungen das brasilianische Soja noch mehr auf dem Weltmarkt reüssieren lassen.
// christian russau

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Brasiliens Indigene informieren UN-Sonderberichterstatterin über die Situation von Menschenrechtsverteidiger:innen in Brasilien https://www.gegenstroemung.org/web/blog/brasiliens-indigene-informieren-un-sonderberichterstatterin-ueber-die-situation-von-menschenrechtsverteidigerinnen-in-brasilien/ Mon, 08 Mar 2021 08:34:01 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2183 Die gefährliche Situation der Menschenrechtsverteidiger:innen in Brasilien wird heute Thema der 46. ordentlichen Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen sein.

Derzeit tagt der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, wegen der Pandemie größtenteils virtuell. Dennoch sind die Treffen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen von enormer Bedeutung, um auf die brenzlige Situation der Menschenrechte aufmerksam zu machen. Nachdem bereits vergangene Woche der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakri, über die verheerenden Verletzungen der Ernährungssouveränität und -sicherheit in Brasilien wegen der Pandemie und der gezielten Untätigkeit der rechtsextremen Regierung von Jair Bolsonaro von zivilgesellschaftlichen Organisationen Brasiliens in Kenntnis gesetzt wurde, steht für diesen Montag, 8. März, die Teilnahme der jungen Indigenen Sthefany Tupinambá am Interaktiven Dialog mit der Sonderberichterstatterin über die Situation von Menschenrechtsverteidigern, Mary Lawlor, an. Die Veranstaltung begann am Freitag, dem 5. März, und wird heute als Teil des Terminkalenders der indigenen und indigenistischen Organisationen in der 46. ordentlichen Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen fortgesetzt. Dies berichtet der Indigenenmissionrat CIMI auf seiner Webseite.

Bei dieser Gelegenheit wird Sthefany Tupinambá, die aus dem Dorf Serra do Padeiro der Terra Indígena Tupinambá de Olivença im nordostbrasilianischen Bundesstaat Bahia stammt, der Sonderberichterstatterin die Schwächen des brasilianischen Programms zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen darlegen. Diese von der Regierung Bolsonaro umgesetzte Politik gefährde das Leben und den Kampf der indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften in Brasilien, so CIMI in einer Voraberklärung. Zu den am meisten gefährdeten Personen gehören demnach Menschenrechtsverteidiger:innen, die sich für die Umwelt, die Verteidigung von Land und traditionellen Territorien einsetzen. Zudem gebe es noch immer sehr viele Fälle, in denen die Behörden und Regierungen von Bundes-, Landes- und Kommunalebenen den indigenen Gemeinden Geschäftsprojekte ohne deren freie, vorherige und informierte Zustimmung aufzwängen. Die konkrete Bedrohungslage für Menschenrechtsverteidiger:innen, die von bewaffneten Milizen, privaten Sicherheitsdiensten und von angeheuerten Killern mit dem Tode bedroht werden, nehme zu, so CIMI. Viele der Täter:innen seien, so CIMI, Angehörige der repressiven Staatsorgane wie Militär- und Zivilpolizei.

Für den Indigenenmissionsrat CIMI ist der Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen eng mit der Verteidigung und dem Schutz traditioneller Territorien, ihrer Menschen und Lebensweisen verbunden. Die Bolsonaro-Regierung weist die seit den 1990er geringsten Ausweisungen (Demarkationen) indigener Territorien auf. Ganze 0 („Null“) indigene Territorien hat Bolsonaro ausgewiesen. Damit setzt er seine Ankündigung um, die er vor seiner Wahl getätigt hatte, nämlich den Indigenen „keinen Zentimeter Landes mehr“ zu geben. Düster steht es auch um die Agrarreform. Im Rückblick der vergangenen 25 Jahre war es vor allem die Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, die die Agrarreform in Brasilien zahlenmäßig am meisten voranbrachte. Zwar erreichte auch die Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) in den Jahren 1997 und 1998 Höchstwerte mit 81.944 bzw. 101.094 angesiedelten Familien, denen im Rahmen des staatlichen Agrarreformprogramms Land zugesprochen wurde, doch die historischen Spitzenwerte bei der Agrarreform erreichte die Lula-Regierung (2003-2010) in den Jahren 2005 (127.506 Familien) und 2006 (136.358 Familien). Während der Regierung von Dilma Rousseff oszillierten die Zahlen der Ansiedlungen im Rahmen der Agrarreform zwischen vergleichsweise bescheidenen 22.012 Familien (2011) und 32.019 Familien (2014). Während der Temer-Regierung reduzierte sich die Agrarreformzahlen weiter drastisch, bevor sie gegenwärtig unter Bolsonaro zum Stillstand gekommen sind.

Unter Bolsonaro spitzen sich auch die Landkonflikte zu. Oft äußern sich die illegal goldschürfenden und holzschlagenden Täter:innen unverhohlen, nun sei doch „ihr Hauptmann“ Bolsonaro Präsident und er habe zugesagt, er werde ihnen – den Gold suchenden garimpeiros, den Tropenholz illegal schlagenden madeireiros, den mit bewaffneten Killern ausgerüsteten Großfarmer:innen – zu „ihrem Recht“ verhelfen. Gepaart mit einer fortschreitenden Liberalisierung des Waffen- und Munitionsbesitzes im Lande entwickelt sich eine zunehmend explosive Mischung. Bolsonaros präsidiale Narrative schaffen Gewalt.

Derweil betreibt die Bolsonaro-Regierung gezielt eine schleichende Entmachtung der Indigenenbehörde Funai und der Umweltbehörde Ibama, indem sie fähige Mitarbeiter:innen durch Bolsonaro-freundliche Militärs oder Evangelikale austauscht. Außerdem kürzt sie diesen Behörden Gelder und verlagert deren Kompetenzen auf andere, ihm und seinem Machtapparat willfährigere Staatsorgane. Hinzu kommt Bolsonaros Plan, die indigenen Territorien künftig für Bergbau, Landwirtschaft und Energie- und Staudammprojekte freizugeben. Die Bilder von großflächiger Zerstörung in Amazonien – sei es durch gezielt gelegte Brände, sei es durch Holzfäller:innen, sei es durch die Goldsuche, sei es durch Infrastrukturbauten, sei es durch Staudämme – geben beredtes Zeugnis darüber, dass es bei Bolsonaro nicht mehr wie bei Lula und Dilma um einen in Kauf genommenen Gegensatz von „Entwicklung“ und „Umwelt“ geht, sondern vielmehr um eine gezielte Zerstörung und rücksichtlose Ausbeutung der „Umwelt“.

// christian russau

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Bundeskabinett macht den Weg frei für die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 für Indigene Rechte durch den Deutschen Bundestag https://www.gegenstroemung.org/web/blog/bundeskabinett-macht-den-weg-frei-fuer-die-ratifizierung-der-ilo-konvention-169-fuer-indigene-rechte-durch-den-deutschen-bundestag/ Fri, 04 Dec 2020 11:02:33 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2158 Künftige Ratifizierung der ILO 169 durch die Bundesrepublik Deutschland ist ein bedeutsamer Schritt hin zur Verwirklichung der Rechte indigener Völker und ein wichtiges Zeichen in Richtung der Bolsonaros dieser Welt.

Von Christian Russau

Das Bundeskabinett hat auf seiner 123. Sitzung am 2. Dezember 2020, wie es auf der Webseite der Bundesregierung heißt: „ohne Aussprache beschlossen“, dem „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 27. Juni 1989 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ den Weg frei zumachen. Damit wird es im Deutschen Bundestag und im Bundesrat eine Abstimmung über die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 geben. Somit wird endlich dem Umstand Rechnung getragen, dass die Rechte Indigener Völker besonders schützenswert sind – und ein jahrzehntelanges Anliegen zivilgesellschaftlicher Organisationen erreicht damit ein wichtiges Etappenziel. Denn die Bundesrepublik Deutschland wird durch die nun beschlossene Einigung auf eine künftige Ratifizierung auch all jenen Regierungschefs weltweit – die aktiv gegen Indigene Rechte vorgehen und die wie beispielsweise ein Bolsonaro, der Indigenen „keinen Zentimeter Land mehr zugestehen“ will und der Brasiliens Ratifizierung der ILO-Konvention 169 aus dem Jahre 2004 am liebsten wieder aufkündigen würde -,dies würde also all jenen Regierungschefs weltweit eine klare Ansage über die Wichtigkeit der ILO-Konvention 169 machen.

Zum Hintergrund: Die ILO 169 und die Bundesrepublik Deutschland
Die deutsche Bundesregierung hatte in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag festgehalten, dass es in dieser Legislaturperiode zu einer Unterzeichnung und Ratifizierung seitens Deutschlands der ILO-Konvention 169 zum Schutze der Rechte Indigener kommen solle: „Wir streben die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum Sozialpakt der Vereinten Nationen sowie der ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker an“, heißt es dort. Nächstes Jahr gibt es wieder Bundestagswahlen, die Zeit wurde knapp. Bislang gab es aber immer noch Bedenkenträger:innen in der Bundesregierung, in Deutschland gebe es ja keine „Indigenen“, was Vertreter:innen der Sorben beispielsweise anders sahen, außerdem fürchteten eher wirtschaftsliberale und konservative Politiker:innen Unbürden und drohendes Ungemach für deutsche Firmen. Deren Zweifel wurden nun offenbar aber ausgeräumt.

Künftige Ratifizierung der ILO 169 durch Deutschland – und was das für Brasilien bedeutet und was das mit deutschen Firmen zu tun haben könnte
Diese nun anstehende Ratifizierung der Ilo-Konvention 169 ist ein starkes Zeichen an Deutschlands strategischen Partner Brasilien und an einen Bolsonaro, der unverhohlen damit droht, dass Brasilien aus der Konvention 169 austrete. Aber: „Selbst wenn Bolsonaro den Austritt aus der ILO 169 wahrmachen sollte“, so Kretã Kaingang von der brasilianischen Indigenen-Dachorganisation APIB Ende 2019, „dann wäre eine Ratifizierung seitens Deutschlands umso wichtiger. Zum einen, um auf der internationalen Ebene Bolsonaro klarzumachen, wie wichtig die ILO 169 ist, wie wichtig die freie, vorherige und informierte Zustimmung der Indigenen ist. Zum anderen bräuchte es in der Ratifizierung Deutschlands aber konkrete und robuste Leitlinien mit Strafandrohungen für alle deutschen Firmen, die in Brasilien oder weltweit in Indigenen Territorien Geschäfte jeder Art machen und dabei die Menschenrechte verletzen. Das muss sanktioniert werden!“
Doch so einfach ist es leider nicht. Denn die ILO-Konvention 169 gilt zwar für alle Staaten, die sie ratifiziert haben, aber die sich daraus ergebenden Pflichten zu Wahrung, Respekt und Gewährleistung der indigenen Rechte gelten eben nur auf staatlicher Ebene – und nicht zivil- oder strafrechtlich für Unternehmen oder Bürger:innen des Staates. Um die deutschen Unternehmen bei ihren Auslandstätigkeiten auf ILO-169-konformes Verhalten zu verpflichten, bräuchte es ein ergänzendes Gesetz. Dazu eignet sich das von der bundesdeutschen Regierungskoalition angestrebte Lieferkettengesetz, das den gesetzlichen Rahmen für alles Handeln deutscher Konzerne im Ausland einschließlich der Zulieferertätigkeit – also von der Mine über die Schmelze bis hin zu ihrer Fabrik – vorgibt und die Unternehmen dazu verpflichtet, in der gesamten Wertschöpfungskette menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfalt walten zu lassen. Doch auch bei dieser Gesetzesvorlage gibt es Verzögerungen, da Teile des Bundeskabinetts noch erheblichen Widerstand leisten, gemeinsam mit Industrievertrer:innen.

Die ILO 169 und Brasilien
„Nicht einen Zentimeter wird mehr als indigenes Reservat demarkiert werden“, sollte er zum Präsidenten Brasiliens gewählt werden, tönte der damalige Abgeordnete und rechtsextreme Hauptmann a.D., Jair Bolsonaro, im April 2017. „2019 werden wir das indigene Reservat Raposa Serra do Sol zerlegen. Wir werden allen Ranchern Waffen geben“, kündigte er bereits 2016 an. Drei Jahre später wurde er Präsident von Südamerikas größtem Staat. Entsprechend fallen nun Bolsonaros Angriffe auf indigene Rechte aus. Die Indigenenbehörde FUNAI wird gezielt finanziell ausgedünnt und institutionell geschwächt, die Entscheidung über Demarkationen indigenen Landes entzog er als eine seiner ersten Amtshandlungen bereits im Januar 2019 per Präsidialdekret der FUNAI und übertrug es dem von eingefleischten ruralistas („Großfarmer*innen“) dominierten Landwirtschaftsministerium, eine Entscheidung, der erst der brasilianische Nationalkongress eine Absage erteilte, indem er die Entscheidungskompetenz wieder der FUNAI zuteilte, woraufhin Bolsonaro sein Dekret im Juni noch einmal überarbeitete und so die Kongressentscheidung umgehen wollte, bevor letztlich im Juni 2019 der Oberste Gerichtshof STF endgültig entschied, dass die Frage der Demarkationen bei der FUNAI, angegliedert dem Justizministerium, zu verbleiben habe. Augenscheinlich eine Niederlage für Bolsonaro, die er aber in der Praxis durch Nichtstun wieder wettmachte – sehr zum Schaden indigener Rechte.
Denn: Die von der Verfassung von 1988 vorgeschriebenen Ausweisungen der indigenen Gebiete als rechtlich geschützte Territorien („Terra Indígena“) sind unter der Bolsonaro-Regierung im Gesamtjahr 2019 entsprechend auf Null zurückgegangen.

Bolsonaro will indigene Territorien für industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben
Doch nicht nur die gezielte Verschleppung der anstehenden Demarkationsprozesse indigener Territorien ist Bolsonaro ein Anliegen. Brasiliens seit Januar 2019 amtierender Präsident will obendrein die bereits rechtlich sanktionierten und somit eigentlich geschützten indigenen Territorien für wirtschaftliche Ausbeutung mittels Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben. Dazu hat er im Februar 2020 einen (der Presse zunächst nicht freigegebenen) Gesetzesvorschlag dem Nationalkongress in Brasília zur Abstimmung überreicht.
Der Gesetzentwurf sieht laut Mitteilung des Präsidialamts vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Ölexploration: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei zwischen 0,5 bis zu 1 Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden die Hälfte des üblicherweise entrichteten Wertes finanzieller Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gegeben.
Die Reaktion einer der Sprecher*innen des Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens APIB, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Konsultation oder Zustimmung bei FPIC? Auch in Brasilien das zentrale Streitthema
Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker 2002 unterzeichnet und 2004 in den Kammern des Kongresses ratifiziert hat, gibt der von Bolsonaro eingereichte Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölexploration geht es nur um Konsultationen – ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt bei Bolsonaros aktuellem Gesetzesentwurf nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Unklar ist, wie die Entscheidungen darüber ablaufen sollen, wenn es in den indigenen Völkern unterschiedliche Ansichten und Absichten darüber gibt. Der nun vorgeschlagene Gesetzestext sieht laut Medienberichten vor, dass die Entscheidungen über Aktivitäten in den Gemeinden von einem Beirat getroffen werden, die von den betroffenen indigenen Völkern gebildet werden und deren Vertreter:innen von den Gemeinschaften „gemäß ihrer normalen Art und Weise“, Anführer:innen und Delegierte zu wählen, ernannt werden. Angesichts unterschiedlicher Interessenslagen auch bei indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Zuvor hatte Bolsonaro Indigene mit „Tieren in einem Zoo“ verglichen, was zurecht heftigste Proteste der indigenen Völker Brasiliens hervorrief: „Die Rede von Bolsonaro und seinem Team über indigene Völker ist rückwärtsgewandt und behandelt uns respektlos, unsere Geschichte, unsere Abstammung, und mißachtet unser politisches-bürgerliches Handeln in Bezug auf den brasilianischen Staat. Der Präsident verglich uns mit Tieren im Zoo, die in einem Käfig gefangen seien, wenn er es mit dem Leben in unseren traditionellen Territorien vergleicht. Er macht absurde Aussagen über unsere Lebensweise und über unsere Wünsche als brasilianische Bürgerinnen. Ja, wir sind Brasilianerinnen! Wir sind Indigene! Wir wissen, was wir wollen, und wir verlangen das Recht, vom Staat zur Ausarbeitung und Umsetzung öffentlicher Richtlinien konsultiert zu werden!“


Die ILO-Konvention 169 wurde von Brasilien 2004 durch die Kammern des Kongresses ratifiziert und durch ein Präsidialdekret in nationales Recht umgesetzt. Laut Lesart des Obersten Gerichtshofs Brasiliens STF stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung Brasiliens, aber oberhalb jedweden Gesetzes. Dies würde im Falle der Gesetzesinitiative von Jair Bolsonaro zur wirtschaftlichen Inwertsetzung der indigenen Territorien bedeuten, dass das in Art. 6 und 7 der ILO-Konvention 169 festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation dem Präsidenten Jair Bolsonaro einen Strich durch die Rechnung machen könnte. In Artikel 6, Satz 2 der ILO-Konvention 169 heißt es: „Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“ Wenn also ein künftig vom Brasilianischen Nationalkongress auf Betreiben Bolsonaros beschlossenes Gesetz zur Inwertsetzung indigener Territorien durch industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Staudämme in Konflikt mit der ILO-Konvention 169 kommen und durch die internationalen Völkerrechtsverpflichtungen aufgehoben werden würde, wäre es für die Bolsonaros und Konsorten also zuerst wichtig, dass Brasilien vorher aus der Konvention austrete.
Dreh- und Angelpunkt im Streit zwischen den wirtschaftlichen Inwertsetzungsinteressen einer Bolsonaro-Regierung und den Schutzinteressen der indigenen Völker Brasiliens im Kampf um ihre Territorien ist die Frage der in Artikel 6 erwähnten zu erreichenden „Zustimmung“ der betroffenen Indigenen und wie die „Konsultation“ im Einzelnen auszusehen habe. Und genau in diesem Spannungsbogen zwischen „Konsultation“ und „Zustimmung“ bewegt sich seit Jahren auch die Auseinandersetzung um die Auslegung der ILO-Konvention 169 in Brasilien.
Projektbetreiber:innen und die Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in Brasília meinen meist, dass es ausreichen würde, Konsultationen in Form von abzuhaltenden Anhörungen durchzuführen. So ist es bei allen bisherigen Großinfrastrukturprojekten wie Überlandstraßen, Wasserkraftwerken und Staudämmen sowie Bergbaugenehmigungen geschehen. Es wurden Anhörungen durchgeführt, die oftmals nicht den Charakter einer freien, vorherigen und informierten Befragung hatten, die nicht „in gutem Glauben“ abliefen und die schon gar nicht eine Abstimmung, womöglich gar mit einem Vetorecht der betroffenen Indigenen, vorsahen.
Indigene Völker wie auch die zuständigen UN-Gremien und die ILO jedoch stehen klar auf dem Standpunkt, dass die ILO-Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent, FPIC) vorschreibt, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker (UNDRIP), die ebenfalls in mehreren Fällen FPIC verbindlich vorschreibt, insbesondere, wenn Territorien und Lebensgrundlagen indigener Völker betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht. Dabei setzt freie und informierte Zustimmung voraus, dass zuvor echte Konsultationen in gutem Glauben („good faith consultations“) stattgefunden haben. Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsexpert:innen und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung alle drei gleichermaßen Grundbedingung des Rechtsschutzes für indigene Völker. Und wenn die „Zustimmung“ erforderlich ist, muss dies im Umkehrschluss heißen, dass ein Projekt nicht durchgeführt werden kann, wenn die betroffenen Gemeinschaften ihre Zustimmung nicht geben. Ein Vetorecht also. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber bislang noch nicht entsprechend anerkannt.

FPIC in Brasiliens Rechtspraxis der vergangenen Jahre: Zwei eklatante Beispiele
Es war nicht alles gut, allein dadurch dass Brasilien die ILO-Konvention 169 unterzeichnet und ratifiziert hat. Denn bei der Rechtsauslegung des Wesensgehaltes von Gesetzen und Normen geht es immer auch um den Widerstreit verschiedener Interessen – und wie mächtig jemandes Interessen im Lande sind.
Eklatantestes Beispiel dafür waren die Anhörungen, die in der Xingu-Region anlässlich des Baus des Staudamms Belo Monte zur Zeit der Regierung Dilma Rousseffs von der brasilianischen Arbeiterpartei PT durchgeführt wurden. Die Informationen über die anberaumten Treffen in den Kreisorten erreichten nicht alle Betroffenen, die obendrein oft keine finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme hatten; Anwesenheit von Militärpolizisten sowie eine technische Sprache von Fachleuten, die auf die Bevölkerung einschüchternd wirkten sowie eine begrenzte Zahl von Treffen, die eher den Charakter einer Aussprache hatten; eine Abstimmung und somit die Möglichkeit eines Vetos war nicht vorgesehen. Hinzu kam das perfide Argument, dass indigene Völker vom Bau von Belo Monte ja nicht im Sinne der Brasilianischen Verfassung betroffen sein würden, da die Verfassung von 1988 Indigene nur dann als von Wasserkraftprojekten „Betroffene“ ansieht, wenn deren Ländereien geflutet werden. Im Fall Belo Monte gehe es aber „nur“ um eine Reduzierung der Wassermenge des Xingu-Flusses in der Volta Grande („Große Flussschleife“) um 80 Prozent. Was dies zur Folge hat, zeigt sich derzeit in einer katastrophal ausgetrockneten Großen Flusschleife am Xingu.
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (Inter-American Commission on Human Rights – IACHR) als Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington, D.C, hatte im April 2011 die brasilianische Regierung offiziell aufgefordert, den Bau des Belo Monte Damm-Komplexes zu stoppen, solange die erforderlichen Konsultationen indigener Völker nicht erfolgt seien. Der Staudammbau würde negative Auswirkungen auf indigene und andere traditionelle Gemeinschaften des Xingu-Beckens haben, besonders auf diejenigen, die an dem hundert Kilometer langen Abschnitt der Volta Grande (Große Flussschleife) leben. Die IACHR-Empfehlungen stimmten mit den Klagen seitens des Ministério Público (in etwa: Bundesstaatsanwaltschaft) von Pará darin überein, dass sie die brasilianische Regierung auffordern, Anhörungen durchzuführen, so wie es die Verfassung vorsieht, und die Zustimmung zum Projekt zu erreichen. Die Rousseff-Regierung war empört über die Empfehlungen, wies diese als absurd zurück, stellte zwischenzeitlich die Geldzahlungen an die Organisation Amerikanischer Staaten ein, berief seinen entsandten Botschafter zurück und drohte unverhohlen mir einem potenziellen Austritt aus der OAS. Letztlich geschah: Nichts. Belo Monte wurde fertiggestellt, erst vor wenigen Monaten wurde die letzte Turbine in Gang gesetzt.
Auch beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss an der Grenze von Pará zu Mato Grosso entschied zunächst ein Gericht einen Betriebsstopp, da die betroffenen Indigenen nicht angemessen gehört wurden. Anfang Dezember 2015 wurde in einem von der Bundesstaatsanwaltschaft angestrengten Prozess in zweiter Instanz entschieden, dass das seit Ende 2015 in Betrieb befindliche Wasserkraftwerk Teles Pires die Rechte der vom Staudamm betroffenen Indigenen Kayabi, Munduruku und Apiaká verletzt. Das Gericht der 5ª Turma do Tribunal Regional Federal da 1ª Região (TRF1) ordnete an, dass die Indigenen gemäß der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (Free Prior and Informed Consent, FPIC) nach der Definition der ILO Konvention Nr.169 befragt und um Zustimmung gebeten werden müssten. Eine solche Befragung und das Einholen der erforderlichen Zustimmung sei weder durch die brasilianische Regierung noch durch den Betreiber des Wasserkraftwerks eingeholt worden, so das Gericht in zweiter Instanz, nachdem zuvor Brasiliens Bundesregierung und die Staudamm-Betreiberin gegen die gleichausgefallene, erstinstanzliche Verurteilung Widerspruch bei Gericht eingelegt hatten. Das Gericht erklärte zudem die durch die Umweltbehörde Ibama erteilte Baugenehmigung für rechtswidrig und folgte darin der Staatsanwältin Eliana Torelly, die in ihrem Plädoyer in der Gerichtsverhandlung der zweiten Instanz erklärt hatte, dass das Wasserkraftwerk Teles Pires „die Verringerung der Fischarten, die Verseuchung des Flusswassers, Abholzung [von Regenwald zur Folge gehabt] und die natürlichen Ressourcen in Mitleidenschaft gezogen“ habe. Das Gericht führte in seiner Urteilsbegründung zudem an, dass durch den Staudammbau und die Flutung von 150 Quadratkilometer Landschaft die Stromschnellen Sete Quedas zerstört wurden. Diese Stromschnellen von Sete Quedas am Fluss Teles Pires aber, so das Gericht, seien für die indigenen Munduruku, die Kayabi und Apiaká heilige Orte. Dort lagerten bis zur Flutung für den Bau des Staudamms Teles Pires im Jahr 2013 die heiligen Urnen der Ahnen der Munduruku, Kayabi und Apiaká. Nur zwölf der Urnen wurden gerrettet und im Museum der Kleinstadt Alta Floresta gelagert. Wegen der Unantastbarkeit heiliger, sakraler Stätten sei eine Befragung und Zustimmung nach den Regeln der ILO-Konvention 169 zur freien, vorherigen und informierten Zuistimmung (FPIC) unablässlich, so das Gericht in seiner damaligen Entscheidung vom Dezember 2015.
Das Urteil zum Betriebsstopp war zwar ab Dezember 2015 rechtskräftig, gleichwohl konnte der Betriebsstopp nie vollstreckt werden. Dies hängt mit der sogenannten „suspensão de segurança“ zusammen. Diese steht für den Verweis auf vermeintlich höherwertige, nationale Interessen. Die „suspensão de segurança“ basiert auf einem Gesetz noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Das Gesetz aus dem Jahre 1964 definiert, dass das Außerkraftsetzen eigentlich verfassungsrechtlich vorgesehener Prinzipien mit dem Verweis auf höherwertige nationale Interessen durch die Regierung durchgesetzt werden kann. Dazu muss nur ein Mitglied des Obersten Gerichtshof eine diesbezügliche Eingabe machen, so dass der Bau oder laufende Betrieb des betreffenden Projekts vorerst durch keine Gerichtsurteile behindert werden darf. Dennoch muss auch diese Rechtseingabe seitens des Obersten Gerichtshofs irgendwann rechtskräftig und abschließend entschieden werden. Doch wann, das regelt das Gesetz nicht. So wies der Bundesstaatsanwalt Felício Pontes Jr. in seinem Plädoyer im Dezember 2015 vor Gericht darauf hin, dass „wir in allen Instanzen gewonnen haben, dass der Staudamm nicht ohne die vorherige Konsultation der Indigenen gebaut werden darf. Aber das Bauvorhaben wurde dennoch zum Abschluss gebracht. Die Indigenen leiden unter Krankheiten, die sie zuvor nicht hatten. Und das alles infolge einer politischen Entscheidung im Sinne der suspensão de segurança, einem Rechtskonstrukt aus der Militärdiktatur, einem Rechtskonstrukt, das es in einem demokratischen Land nicht geben dürfte.“
Die Indigenen Munduruku, Kayabi und Apiaká protestieren weiter gegen die Staudammbauten am Teles Pires-Fluss, wo ihre heiligen Stätten durch die Wasserkraftwerke zerstört wurden. Es gab mehrere Baustellenbesetzungen des Wasserkraftwerks São Manoel, das in Nähe des Wasserkraftwerks Teles Pires liegt. Im Dezember 2019 besetzten 70 Munduruku das Museum der Kleinstadt Alta Floresta und entnahmen die dort lagernden zwölf heiligen Urnen ihrer Vorfahren, die letzten erhaltenen Urnen aus dem überschwemmten heiligen Ort der Stromschnellen von Sete Quedas und verbrachten die Urnen in ihr Territorium.
Den Bau dieses umstrittenen Staudamms Teles Pires hatte übrigens die deutsche Münchener Rückversicherungsgesellschaft (Munich Re) gegen Schäden rückversichert. Eine Vertreterin der brasilianischen Widerstandsbewegung Movimento Xingu Vivo para Sempre war deshalb 2015 eigens zur Hauptversammlung der Münchener Rück nach München gereist, um die Konzernvorstände auf die Verstrickung der Firma beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss anzusprechen. Ihr war es vorbehalten, die entscheidende Frage zu stellen: „Am Teles Pires haben die Baufirmen einen riesigen Wasserfall gesprengt: Dieser Wasserfall heißt Sete Quedas. Für die Indigenen Kayabi, Apyaka und Munduruku ist Sete Quedas ihr heiligster Ort. Wie würden Sie reagieren, wenn eine Baufirma daherkommt und die Münchener Frauenkirche mit Bulldozern einreißt?“ Der damalige Vorstandsvorsitzende der Münchener Rückversicherungsgesellschaft, Nikolaus von Bomhard, hatte darauf keine Antwort. Manchmal spricht Sprachlosigkeit dann doch Bände.

Wehrhafte indigene Gemeinden vor Ort: Selbst-Erarbeitung eigener Konsultationsprotokolle
Um dem rechtlich noch ungeklärten Graubereich einer ILO-Konvention-169-konformen Rechtssprechung Nachdruck zu verleihen, haben in Brasilien ab dem Jahre 2014 mehr und mehr indigene Völker eigenständig erarbeitete Verfahrensprotokolle erstellt, um dergestalt ein rechtsgültiges Dokument in der Hand zu haben, mittels dessen sie fordern, dass ihre Konsultation nach ihren Regeln ablaufen soll. Wichtige Elemente sind dabei oft die indigene Sprache, der Ort (in den Gemeinden selbst), die Zeit (wichtig wegen jahreszeitlichen Arbeiten wie Ernte oder religiösen Riten), die Zeitdauer (jede/r kann solange reden, wie er/sie will), die Entscheidung, wer überhaupt von den Nicht-Indigenen teilnehmen darf, die Notwendigkeit der Rückkoppelung mit dem Gemeinden, so nicht alle anreisen können sowie natürlich die Frage nach dem Veto-Recht.
Mittlerweile gibt es an ein Dutzend solcher niedergelegter Verfahrensprotokolle in Brasilien, sowohl von indigenen Gemeinden und Völkern, als auch von anderen traditionellen Völkern und Gemeinschaften (Quilombolas, Ribeirinhos, etc). Am Ende dieses Textes findet sich beispielhaft das von den indigenen Munduruku erarbeitete Verfahrensprotokoll zur Konsultation in deutschsprachiger Übersetzung.
Die Bedeutung dieser autonom von den indigenen Gemeinschaften und Völkern erstellten Verfahrensprotokolle zur Konsultation sollte nicht unterschätzt werden. 2017 hatte erstmals ein Gericht eine Baugenehmigung für ein Bergbauunternehmen in Brasilien auf Basis des Rechtsarguments entzogen, dass das von der betroffenen indigenen Gemeinschaft erstellte Dokument zum Protokollverfahren der Konsultation von der Firma nicht befolgt worden war. Als das bekannt wurde, begannen sich mehr und mehr indigene und andere traditionelle Völker und Gemeinschaften der Erstellung solcher Protokolle zu widmen, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Bolsonaros Androhung der Kündigung der ILO-Konvention 169
Die Bolsonaro-Regierung jedenfalls gibt derzeit deutliche Anzeichen, dass sie die ILO-Konvention 169 – und auf deren Basis die eigenständige Erstellung von niedergelegten Protokollverfahren zur Konsultation indigener und anderen traditioneller Völker und Gemeinschaften – als Gefahr für ihre Anti-Indigenen-Rechte-Strategie ansieht und von daher einen Ausstieg Brasiliens aus der ILO-Konvention 169 androht. Als erste schickte die Bolsonaro-Regierung im März 2019 Brasiliens Botschafterin bei der UNO in Genf, Maria Nazareth Farani Azevêdo, vor, die öffentlich auf die Möglichkeit verwies, dass Brasilien die ILO-Konvention 169 verlassen könnte. Dann folgte im Oktober 2019 das direkt dem Präsidenten Brasiliens unterstellte Sicherheitskabinett GSI, das laut einem Pressebericht vom 4. Oktober 2019 die Bundesanwaltschaft AGU aufforderte, ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs STF aus dem Jahre 2006, das die Rechtsgültigkeit der von Brasilien 2002 ratifizierten ILO-Konvention 169 auch auf Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzer) bestätigte, auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Laut dem Pressebericht erinnert das GSI-Dokument auch an den nächstmöglichen Kündigungszeitraum, sollte Brasilien sich entscheiden, aus der ILO-Konvention 169 auszutreten: Dies könne, so das GSI-Dokument, zwischen dem 5.9.2021 und 5.9.2022 geschehen. Als Begründung für einen möglichen Austritt Brasiliens erwähnt das GSI-Dokument die „Auswirkungen der ILO-Konvention 169 auf die Entwicklung des Landes“. Das GSI-Dokument schlägt die Einrichtung einer Arbeitsgruppe vor, die einen neuen Vorschlag für ein Präsidaldekret erarbeiten solle, das den Modus Operandi der „vorherigen Konsultation indigener Völker und Stämme“ neu regeln soll. Auch hier liefert das mittlerweile mehrheitlich von Militärs dominierte GSI gleich eine Begründung: die bisherige Anwendung der ILO 169 beeinträchtige „Projekte mit nationalem Interesse“.
Diese Ankündigung sollten bei allen die Alarmglocken schrillen lassen.

Anhang:

Wie die Munduruku das Protokollverfahren zur Konsultation wollen
14.05.2017 | Übersetzung von Christian Russau

Die indigenen Munduruku vom Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós haben ein Grundlagendokument erstellt, in dem sie erklären, wie eine rechtlich korrekte Konsultation der Munduruku im Falle von Großprojekten wie Staudämmen auszusehen habe.
Quelle: Movimento Munduruku Ipereg Ayu, Associações: Da’uk, Pusuru, Wixaximã, Kerepo und Pahyhyp: Protocolo de Consulta Munduruku, Jan. 2016, unter: http://fase.org.br/pt/acervo/biblioteca/protocolo-de-consulta-munduruku/
Im Entstehensprozess des Dokuments, das in den indigenen Dörfern mit allen Munduruku 2015 gemeinsam debattiert und im Konsens verabschiedet wurde, war den Munduruku immer wichtig zu betonen, dass sie für sich selbst selbst reden und dass niemand Einzelnes ohne Weiteres für die Gruppe sprechen darf. Daher hier die Erklärung der Munduruku zum Protokollverfahren der Konsultation im Wortlaut:


„Wir, das Volk der Munduruku,
wir wollen hören, was die Regierung uns zu sagen hat. Aber wir wollen keine Ausreden. Damit das Volk der Munduruku entscheiden kann, müssen wir wissen, was tatsächlich geschehen wird. Und die Regierung muss uns anhören. Zuallererst fordern wir die Demarkation des Indigenen Territoriums Sawré Muybu. Auf gar keinen Fall akzeptieren wir eine Umsiedlung. Wir fordern von der Regierung zudem, dass unsere isoliert in unserem Land lebenden Verwandten geschützt werden und dass das Recht auf Konsultation der anderen Völker, wie der Apiaká und der Kayabi, die auch durch diese Projekte bedroht sind, garantiert werde. Außerdem fordern wir, dass den durch die Staudämme im Tapajós betroffenen Gemeinden der Flussanwohner von Montanha-Mangabal, Pimental und São Luiz ihr Recht auf Konsultation angemessen und ihrer besonderen Realität angepasst gewahrt werde. Genauso wie wir haben die Flussanwohner das Recht auf eigene Konsultation.
Wer soll konsultiert werden?
Die Munduruku aller Dörfer – des Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós – müssen konsultiert werden, auch diejenigen aus indigenen Gebieten, die noch nicht demarkiert wurden.
Soll die Regierung nicht denken, wir seien gespalten:
„Es gibt nur ein Volk der Munduruku“
Es sollen konsultiert werden:
• die weisen Alten, die pajés, die Geschichtenerzähler, die Kenner traditioneller Medizin, die Kenner der Wurzeln und der Blätter, diejenigen, die die heiligen Orte kennen.
• die Kaziken und Anführer, die Krieger und Kriegerinnen. Die Kaziken sind miteinander vernetzt und teilen die Informationen mit allen Dörfern. Es sind sie, die alle zusammenrufen, damit wir debattieren, was wir machen werden. Die Krieger und Kriegerinnen unterstützen den Kaziken, gehen mit ihm und schützen unser Territorium.
• die Anführer, die Lehrer sind, und die, die für die Gesundheit zuständig sind, die also, die mit der ganzen Gemeinschaft arbeiten.
• die Frauen, damit sie ihre Erfahrungen und Informationen weitergeben. Es gibt Frauen, die sind pajés, Hebammen und Kunsthandwerkerinnen. Sie bearbeiten das Feld, geben Ideen und Rat, bereiten das Essen zu, stellen medizinische Produkte her und verfügen über ein großes und breites traditionelles Wissen.
• die Universitätsstudenten, die Erzieher der Munduruku, die Ibaorebu-Studenten, die Jugendlichen und Kinder müssen auch konsultiert werden, weil sie die zukünftige Generation sind. Viele Jugendliche haben Zugang zu Kommunikationsmedien, lesen Zeitungen, gehen ins Internet, sprechen portugiesisch und kennen unsere Realität und haben aktiven Anteil an dem Kampf unseres Volkes.
• unsere Organisationen (Conselho Indígena Munduruku Pusuru Kat Alto Tapajós – Cimpukat, Da’uk, Ipereg Ayu, Kerepo, Pahyhy, Pusuru und Wixaximã) müssen auch konsultiert werden, aber sie dürfen niemals alleine konsultiert werden. Die Stadtverordneten Munduruku sprechen nicht für unser Volk. Die Entscheidungen des Volks der Munduruku werden kollektiv getroffen.
Wie soll der Prozess der Konsultation ablaufen?
• Die Regierung darf uns nicht erst dann konsultieren, wenn alle Entscheidungen schon getroffen sind. Die Konsultation muss vor allem anderen stattfinden. Alle Treffen müssen in unserem Territorium stattfinden – in dem Dorf, das wir auswählen –, und nicht in der Stadt, nicht einmal in Jacareacanga oder Itaituba.
• Die Treffen dürfen nicht zu Zeiten stattfinden, die die Aktivitäten unserer Gemeinschaft stören (also zum Beispiel nicht während der Feldarbeits-Saison des Feldfurchens oder des Pflanzens; nicht während der Zeit des Kastanien-Sammelns, nicht während der Zeit des Mehls, nicht während unserer Festtage; nicht am Tag des Indigenen). Wenn die Regierung in unser Dorf zur Konsultation kommt, dürfen sie nicht nur kurz einfliegen und am nächsten Tag wieder weggehen. Sie müssen in Ruhe mit uns Zeit verbringen.
• Die Treffen müssen in der Sprache Munduruku abgehalten werden und wir entscheiden, wer übersetzen wird. In diesen Treffen muss unser Wissen genauso anerkannt werden wie dies der pariwat (nicht-indigener). Weil es sind wir, die wir die Flüsse kennen, den Wald, die Fische und das Land. Es sind wir, die wir die Treffen koordinieren, nicht die Regierung.
• An den Treffen sollen die Partner unseres Volkes teilnehmen: Die Bundesstaatsanwaltschaft, die von uns ausgewählten Partnerorganisationen sowie Fachleute unseres Vertrauens, die wir auswählen. Die Unkosten unserer Anwesenheit und die unserer Partner während aller Treffen gehen auf Kosten der Regierung.
• Damit die Konsultation wirklich frei sein wird, werden wir auf den Treffen unter keinen Umständen bewaffnete pariwat (Militärpolizei, Bundespolizei, Bundesstraßenpolizei, Heer, Nationaler Sicherheitskräfte, Brasilianischen Geheimdienst oder jedwede anderen staatlichen oder privaten Sicherheitskräfte) akzeptieren.
• Wenn die Regierung mit Kameras ankommt, darf sie ohne unsere Autorisierung keine Aufnahmen machen. Zu unserer Sicherheit sollen die Treffen gefilmt werden und die Regierung muss uns die vollständigen Kopien der Aufnahmen übergeben.
Die von uns bisher angesprochenen Treffen teilen sich in folgende auf:
• Treffen zum Beschluss über den Plan für die Konsultation: Die Regierung muss sich mit dem Volk der Munduruku treffen, damit wir eine Übereinkunft treffen, welchen Plan wir für die Konsultation festlegen. Dieser Plan für die Konsultation muss dieses Dokument hier in Gänze respektieren, da es erklärt, wie wir uns organisieren und wie wir unsere Entscheidungen treffen.
• Informationstreffen: Die Regierung muss sich mit unserem Volk treffen, in jedem Dorf einzeln, um uns über ihre Vorhaben zu informieren und unsere Zweifel und Nachfragen zu beantworten. Neben uns sollen die Partner unseres Volkes an diesem Treffen jeweils teilnehmen.
• Interne Treffen: Nach diesen Informationstreffen brauchen wir Zeit zum Diskutieren unter uns über die Vorschläge der Regierung. Wir werden Zeit brauchen, um den Vorschlag den Verwandten, die nicht an den Informationstreffen teilnehmen konnten, zu erläutern. Des Weiteren wollen wir uns mit den Flussanwohnern (beispielsweise mit denen von Montanha-Mangabal) treffen und beratschlagen. Wir werden unsere Partner zu unseren internen Treffen hinzuladen. Aber die Regierung darf dabei nicht anwesend sein. Sollten Unklarheiten oder neue Informationen aufkommen, dann muss die Regierung weitere Informationstreffen mit uns und unseren Partnern abhalten. Danach dann würden wir weitere Treffen mit unseren Partner, ohne die Regierung, machen, um die Unklarheiten zu klären und um zu debattieren. Egal wie viele Treffen dafür notwendig wären, damit das Volk der Munduruku sich vollständig informiert
• Verhandlungstreffen: Wenn wir hinreichende Informationen haben und mit unserem ganzen Volk debattiert haben, wenn wir also eine Antwort an die Regierung haben, dann muss die Regierung sich mit uns, in unserem Territorium treffen. An diesem Treffen sollen auch unsere Partner teilnehmen. Die Regierung muss zuhören und auf unseren Vorschlag antworten, selbst wenn unser Vorschlag anders als der von der Regierung sei. Und wir mahnen: Wir akzeptieren nicht, dass die Regierung Rechte so einsetzt, wie die, die uns eigentlich zustehen, aber nie respektiert werden, um uns letztlich reinzulegen.
Wie treffen wir Munduruku unsere Entscheidungen?
• Wenn ein Vorhaben uns alle betrifft, dann ist unsere Entscheidung eine kollektive. Die Regierung darf nicht nur einen Teil des Volks der Munduruku konsultieren (sie darf zum Beispiel nicht nur die Munduruku des Mittleren Tapajós oder nur die des Oberen Tapajós konsultieren).
• Keine Vereinigung der Munduruku entscheidet für das Volk der Munduruku, keine Organisation redet für unser Volk. Die Entscheidungen unseres Volks werden auf der Vollversammlung getroffen, die durch unsere Kaziken einberufen wird. Es sind unsere Kaziken, die gemeinsam und zusammen Zeit und Ort der Generalversammlung festlegen und die Munduruku zur Teilnahme einladen. Auf diesen Versammlungen werden die Entscheidungen im Anschluss an die Debatte getroffen: Wir diskutieren und kommen zu einem Kosens. Wenn es nötig ist, diskutieren wir viel. Wir stimmen nicht ab. Wenn es keinen Konsens gibt, entscheidet die Mehrheit.
Was erwartet das Volk der Munduruku von dieser Konsultation?
„Wir erwarten, dass die Regierung unsere Entscheidung respektiert. Wir haben Veto-Recht.
Sawe!!“

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Studie: Fische im nördlichen Amazonasgebiet bei Quecksilber durch Goldwäsche über Grenzwerten verseucht https://www.gegenstroemung.org/web/blog/studie-fische-im-noerdlichen-amazonasgebiet-bei-quecksilber-durch-illegale-goldwaesche-ueber-grenzwerten-verseucht/ Mon, 14 Sep 2020 12:49:23 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2100 Eine im Juli dieses Jahres im International Journal of Environmental Research and Public Health eröffentlichte Studie weist über WHO-Grenzwerten liegende Quecksilberwerte in Speisefischen, dem Proteingrundnahrungsmittel der flussanwohnenden Indigenen Gemeinden, nach. Der Klein-Goldbergbau ist den Forscher:innen der staatlichen Oswaldo Cruz Stiftung (Fiocruz), dem WWF Brazil und dem Amapá Institut für Wissenschafts- und Technologieforschung IEPA sowie dem Institut für Indigenes Forschung und Training Iepé zufolge die Hauptquelle anthropogener Quecksilberemissionen und -kontaminationen in Lateinamerika. Im vergangenen Jahrhundert erfolgte die Hauptverseuchung von Umwelt und Bevölkerung durch den Verzehr von Fisch, ein Umstand, der angesichst der hohen Quecksilberwerte die Ernährungssicherheit und die Lebensgrundlagen der traditionellen Gemeinschaften gefährde, so die Forscher:innen. Die Untersuchung wurde im brasilianischen Nordamazonas, konkret im Bundesstaat Amapá, durchgeführt.

Für die Gemeinschaften im Amazonas ist Fisch schon immer ein wichtiger Bestandteil der Ernährung, bei der notwendigen Proteinzufuhr gar der wichtigste Faktor. In den nördlichen Ausläufern des Amazonas sind die vier wichtigsten Fischarten, die verspeist werden, der Studie zufolge Tucunaré, Pirapucu, Trairão und Mandubé. Doch der Goldbergbau hat diese Fische zu einem oft tödlichen Gesundheitsrisiko werden lassen. Laut der Studie lag der Quecksilbergehalt in Pirapucu viermal höher als der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegte sichere Grenzwert. Die Forscher:innen analysierten 428 Proben von Fischen, die zwischen 2017 und 2018 in fünf Flüssen im brasilianischen Bundesstaat Amapá gefangen wurden. Die Sammelstellen befanden sich in der Nähe von Bergbaueinzugsgebieten, in denen Quecksilber häufig zur Trennung von Gold und Erz verwendet wird. Das Ergebnis: In allen Proben wurden nachweisbare Quecksilbermengen gefunden. In 28,7% von ihnen überschritt die Menge den WHO-Grenzwert.

Die Studie weist vor allem auf die Risiken hin, denen die indigene und an Flüssen lebende Bevölkerung des Bundesstaates ausgesetzt ist, insbesondere Kinder. Einer der Mitverfasser der Studie, Paulo Basta, ein Arzt und Fiocruz-Forscher sagt, die Auswirkungen der Quecksilberbelastung auf ungeborene Kinder seien bereits gut dokumentiert. Diese Kinder „können Beeinträchtigungen des Intelligenzquotienten erleiden, die ihr ganzes Leben lang anhalten werden“, sagt er. „Sie werden Lernschwierigkeiten und geringere Chancen auf einen guten Arbeitsplatz und ein gutes Einkommen haben. Das Ergebnis ist ein ständiger Kreislauf von Ungleichheit und Armut“. In den schwersten Fällen kann das Kind mit Missbildungen geboren werden. Bei Erwachsenen kann die Quecksilberverunreinigung zu Koordinationsproblemen wie Gehschwierigkeiten und Handzittern, Hör- und Sehbehinderungen und sogar zu Demenz führen, so Basta. Der stellvertretende Exekutivdirektor des an der Studie beteiligten Instituts Iepé, Décio Yokota, ein weiterer Mitautor der Studie, sagt, dass Fisch aus dem untersuchten Gebiet von Menschen aus mindestens vier indigenen Gebieten verzehrt wird: Wajãpi, Uaçá, Juminã und Galibi. Für diese Populationen ist Fisch die Hauptproteinquelle und somit auch Hauptursacheder der Quecksilberverunreinigung bei menschen – dies infolge der Bioakkumulation. „Kleine Fische fressen die Algen, dann frisst ein grösserer Fisch die kleinen Fische und wird von anderen, noch größeren Fischen gefressen“, sagt er. „Deshalb stehen die am stärksten kontaminierten Fische in der Regel an der Spitze der Nahrungskette. Dabei reichern sie eine sehr grosse Menge Quecksilber an“, sagt er. Dies erklärt, so die Forscher:innen, warum Raubfische in der Studie die höchsten Kontaminationswerte aufwiesen: Bei 77,6% von ihnen lag das Quecksilber über dem WHO-Grenzwert. „Wenn man diese kontaminierten Fische jeden Tag ißt, erhöht sich der Kontaminationsgrad jedes Mal, wenn man sie ißt“, sagt Basta. Bei den allesfressenden Fischen, die sich sowohl von Fischen als auch von Pflanzen ernähren, lag der Anteil der mit unsicheren Quecksilberwerten kontaminierten Fische bei 20%, bei den pflanzenfressenden Fischen bei 2,4%.

// christian russau

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