Suchergebnisse für „belo monte“ – GegenStrömung https://www.gegenstroemung.org/web Mon, 01 Feb 2021 10:47:59 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.7.1 Staudamm Belo Monte vor ökonomischem Fiasko https://www.gegenstroemung.org/web/blog/staudamm-belo-monte-vor-oekonomischem-fiasko/ Mon, 01 Feb 2021 10:32:51 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2172 Staudammbetreiberin von Belo Monte warnt vor massiven ökonomischen Verlusten, wenn die von der Umweltbehörde Ibama unlängst beschlossene Reduzierung der Wasserableitung weg vom Staudammbereich hin zur Großen Flusschleife der Volta Grande zum Schutze der Interessen der kleinen lokalen Anwohner:innen umgesetzt werde. Firma will Ibama-Entscheidung rückgängig machen. Kritiker:innen hatten bereits vor Baubeginn vor Jahren auf den Konflikt „Profitabilität des Staudamms versus Interessen der lokalen Anwohner:innen“ gewarnt.

Staudamm Belo Monte. Foto: Christian Russau

Es war seit gut einem Jahrzehnt von vielen Kritiker:innen des Monster-Staudamms Belo Monte immer wieder darauf hingewiesen worden: Der Staudamm Belo Monte im amazonischen Bundesstaat Pará werde der Großen Flussschleife der Volta Grande zum profitablen Betrieb des 11-GW-Stauwerks so viel Wasser entziehen, dass Natur und Mensch vor Ort massiv in Mitleidenschaft gezogen werden, denn eine bis zu 80-prozentige Reduzierung der Wassermenge des fast 100 Kilometer langen Flusslaufs bedeutet dort vor Ort mehr stehendes Wasser, mit allen Konsequenzen wie Sauerstoffmangel, Fischsterben, vermehrte Mosquitobildung und massiv erschwerte Transportmöglichkeiten für die vor Ort lebenden Anwohner:innen (ganz zu schweigen vom direkten Zerhacken der Fische durch die Rotoren der Turbinen). Die Kritiker:innen hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass es trotz Regenzeit eben auch immer Trockenzeiten gebe und dass deshalb der Konflikt zwischen Profitabilität des Stauwerks und Interessen der lokalen Anwohner:innen der Volta Grande unausweichlich sei. Nun droht der angekündigte Konflikt sich zuzuspitzen.

Nachdem im November vergangenen Jahres sich Anwohner:innen zum Protest zusammengeschlossen und die Transamazônica blockiert hatten und eine erhöhte Mindestmenge an freiem Wasserdurchlauf für die Volta Grande forderten, hatte die Umweltbehörde Ibama entschieden, dass bei der Kanalabzweigung vor dem erste Stauwerk Pimental maximal nur noch vorläufig 10.900 Kubikmeter je Sekunde in Richtung Stauwerk Belo Monte abgezweigt werden dürften, um dergestalt einen Minimaldurchfluss von 16.000 m3/s in der Volta Grande do Xingu zu garantieren, damit die Reproduktion von Fauna und Flora während der Piracema-Periode in der Volta Grande gewährleistet werden könne.

Nun aber hat die Belo-Monte-Betreiberfirma Norte Energia dieser Entscheidung in einer formalen Mitteilung an die Umweltbehörde widersprochen. Eine Reduzierung der Wassermenge auf 10.900 Kubikmeter je Sekunde für den Betrieb des Stauwerks Belo Monte sei zu wenig, um eine profitable Stromproduktion zu gewährleisten, so berichtet es die Zeitschrift IstoÉ Dinheiro. Dieser formale Einwand wurde dem Bericht zufolge auch an die Bundesministerien in Brasília entsandt. Der Bericht zitiert Quellen, denen zufolge nicht nur die Profitabiliät des größeren Stauwerks Belo Monte, sondern auch die des vorgeschalteten kleineren Stauwerks von Pimental gefährdet sei. Eines der weiteren Argumente der Staudammbetreiberin dreht nun das Argument des Schutzes der Fische dabei aber um: Eine Reduzierung der Wassermenge für das dem Staudammreservoir zuzuführende Wasser berge die Gefahr, dass es im Reservoirbereich durch sinkende Wasserstände zu abgeschlossenen Teichbereichen käme, in denen die dann eingeschlossenen Fische verenden würden oder diesen Fischen der zur Laichung so wichtige Fischzug verunmöglicht werde, so IstoÉ Dinheiro in dem Bericht. Eine abrupte Erhöhung des Wasserdurchflusses bei Pimental berge zudem die Gefahr einer plötzlichen Flutbildung in der Volta Grande, was zu Überschwemmungen und Zerstörungen an Hab und Gut der dort lebenden Menschen sowie eine Gefährdung von Flora und Fauna bedeute. Der Konflikt wird sich zuspitzen. Als wäre vor all dem nicht vorher schon deutlich gewarnt worden…

// christian russau

Reservoir von Belo Monte. Foto: christian russau
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Bundeskabinett macht den Weg frei für die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 für Indigene Rechte durch den Deutschen Bundestag https://www.gegenstroemung.org/web/blog/bundeskabinett-macht-den-weg-frei-fuer-die-ratifizierung-der-ilo-konvention-169-fuer-indigene-rechte-durch-den-deutschen-bundestag/ Fri, 04 Dec 2020 11:02:33 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2158 Künftige Ratifizierung der ILO 169 durch die Bundesrepublik Deutschland ist ein bedeutsamer Schritt hin zur Verwirklichung der Rechte indigener Völker und ein wichtiges Zeichen in Richtung der Bolsonaros dieser Welt.

Von Christian Russau

Das Bundeskabinett hat auf seiner 123. Sitzung am 2. Dezember 2020, wie es auf der Webseite der Bundesregierung heißt: „ohne Aussprache beschlossen“, dem „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 27. Juni 1989 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ den Weg frei zumachen. Damit wird es im Deutschen Bundestag und im Bundesrat eine Abstimmung über die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 geben. Somit wird endlich dem Umstand Rechnung getragen, dass die Rechte Indigener Völker besonders schützenswert sind – und ein jahrzehntelanges Anliegen zivilgesellschaftlicher Organisationen erreicht damit ein wichtiges Etappenziel. Denn die Bundesrepublik Deutschland wird durch die nun beschlossene Einigung auf eine künftige Ratifizierung auch all jenen Regierungschefs weltweit – die aktiv gegen Indigene Rechte vorgehen und die wie beispielsweise ein Bolsonaro, der Indigenen „keinen Zentimeter Land mehr zugestehen“ will und der Brasiliens Ratifizierung der ILO-Konvention 169 aus dem Jahre 2004 am liebsten wieder aufkündigen würde -,dies würde also all jenen Regierungschefs weltweit eine klare Ansage über die Wichtigkeit der ILO-Konvention 169 machen.

Zum Hintergrund: Die ILO 169 und die Bundesrepublik Deutschland
Die deutsche Bundesregierung hatte in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag festgehalten, dass es in dieser Legislaturperiode zu einer Unterzeichnung und Ratifizierung seitens Deutschlands der ILO-Konvention 169 zum Schutze der Rechte Indigener kommen solle: „Wir streben die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum Sozialpakt der Vereinten Nationen sowie der ILO-Konvention 169 zum Schutz der indigenen Völker an“, heißt es dort. Nächstes Jahr gibt es wieder Bundestagswahlen, die Zeit wurde knapp. Bislang gab es aber immer noch Bedenkenträger:innen in der Bundesregierung, in Deutschland gebe es ja keine „Indigenen“, was Vertreter:innen der Sorben beispielsweise anders sahen, außerdem fürchteten eher wirtschaftsliberale und konservative Politiker:innen Unbürden und drohendes Ungemach für deutsche Firmen. Deren Zweifel wurden nun offenbar aber ausgeräumt.

Künftige Ratifizierung der ILO 169 durch Deutschland – und was das für Brasilien bedeutet und was das mit deutschen Firmen zu tun haben könnte
Diese nun anstehende Ratifizierung der Ilo-Konvention 169 ist ein starkes Zeichen an Deutschlands strategischen Partner Brasilien und an einen Bolsonaro, der unverhohlen damit droht, dass Brasilien aus der Konvention 169 austrete. Aber: „Selbst wenn Bolsonaro den Austritt aus der ILO 169 wahrmachen sollte“, so Kretã Kaingang von der brasilianischen Indigenen-Dachorganisation APIB Ende 2019, „dann wäre eine Ratifizierung seitens Deutschlands umso wichtiger. Zum einen, um auf der internationalen Ebene Bolsonaro klarzumachen, wie wichtig die ILO 169 ist, wie wichtig die freie, vorherige und informierte Zustimmung der Indigenen ist. Zum anderen bräuchte es in der Ratifizierung Deutschlands aber konkrete und robuste Leitlinien mit Strafandrohungen für alle deutschen Firmen, die in Brasilien oder weltweit in Indigenen Territorien Geschäfte jeder Art machen und dabei die Menschenrechte verletzen. Das muss sanktioniert werden!“
Doch so einfach ist es leider nicht. Denn die ILO-Konvention 169 gilt zwar für alle Staaten, die sie ratifiziert haben, aber die sich daraus ergebenden Pflichten zu Wahrung, Respekt und Gewährleistung der indigenen Rechte gelten eben nur auf staatlicher Ebene – und nicht zivil- oder strafrechtlich für Unternehmen oder Bürger:innen des Staates. Um die deutschen Unternehmen bei ihren Auslandstätigkeiten auf ILO-169-konformes Verhalten zu verpflichten, bräuchte es ein ergänzendes Gesetz. Dazu eignet sich das von der bundesdeutschen Regierungskoalition angestrebte Lieferkettengesetz, das den gesetzlichen Rahmen für alles Handeln deutscher Konzerne im Ausland einschließlich der Zulieferertätigkeit – also von der Mine über die Schmelze bis hin zu ihrer Fabrik – vorgibt und die Unternehmen dazu verpflichtet, in der gesamten Wertschöpfungskette menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfalt walten zu lassen. Doch auch bei dieser Gesetzesvorlage gibt es Verzögerungen, da Teile des Bundeskabinetts noch erheblichen Widerstand leisten, gemeinsam mit Industrievertrer:innen.

Die ILO 169 und Brasilien
„Nicht einen Zentimeter wird mehr als indigenes Reservat demarkiert werden“, sollte er zum Präsidenten Brasiliens gewählt werden, tönte der damalige Abgeordnete und rechtsextreme Hauptmann a.D., Jair Bolsonaro, im April 2017. „2019 werden wir das indigene Reservat Raposa Serra do Sol zerlegen. Wir werden allen Ranchern Waffen geben“, kündigte er bereits 2016 an. Drei Jahre später wurde er Präsident von Südamerikas größtem Staat. Entsprechend fallen nun Bolsonaros Angriffe auf indigene Rechte aus. Die Indigenenbehörde FUNAI wird gezielt finanziell ausgedünnt und institutionell geschwächt, die Entscheidung über Demarkationen indigenen Landes entzog er als eine seiner ersten Amtshandlungen bereits im Januar 2019 per Präsidialdekret der FUNAI und übertrug es dem von eingefleischten ruralistas („Großfarmer*innen“) dominierten Landwirtschaftsministerium, eine Entscheidung, der erst der brasilianische Nationalkongress eine Absage erteilte, indem er die Entscheidungskompetenz wieder der FUNAI zuteilte, woraufhin Bolsonaro sein Dekret im Juni noch einmal überarbeitete und so die Kongressentscheidung umgehen wollte, bevor letztlich im Juni 2019 der Oberste Gerichtshof STF endgültig entschied, dass die Frage der Demarkationen bei der FUNAI, angegliedert dem Justizministerium, zu verbleiben habe. Augenscheinlich eine Niederlage für Bolsonaro, die er aber in der Praxis durch Nichtstun wieder wettmachte – sehr zum Schaden indigener Rechte.
Denn: Die von der Verfassung von 1988 vorgeschriebenen Ausweisungen der indigenen Gebiete als rechtlich geschützte Territorien („Terra Indígena“) sind unter der Bolsonaro-Regierung im Gesamtjahr 2019 entsprechend auf Null zurückgegangen.

Bolsonaro will indigene Territorien für industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben
Doch nicht nur die gezielte Verschleppung der anstehenden Demarkationsprozesse indigener Territorien ist Bolsonaro ein Anliegen. Brasiliens seit Januar 2019 amtierender Präsident will obendrein die bereits rechtlich sanktionierten und somit eigentlich geschützten indigenen Territorien für wirtschaftliche Ausbeutung mittels Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben. Dazu hat er im Februar 2020 einen (der Presse zunächst nicht freigegebenen) Gesetzesvorschlag dem Nationalkongress in Brasília zur Abstimmung überreicht.
Der Gesetzentwurf sieht laut Mitteilung des Präsidialamts vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Ölexploration: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei zwischen 0,5 bis zu 1 Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden die Hälfte des üblicherweise entrichteten Wertes finanzieller Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gegeben.
Die Reaktion einer der Sprecher*innen des Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens APIB, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Konsultation oder Zustimmung bei FPIC? Auch in Brasilien das zentrale Streitthema
Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker 2002 unterzeichnet und 2004 in den Kammern des Kongresses ratifiziert hat, gibt der von Bolsonaro eingereichte Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölexploration geht es nur um Konsultationen – ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt bei Bolsonaros aktuellem Gesetzesentwurf nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Unklar ist, wie die Entscheidungen darüber ablaufen sollen, wenn es in den indigenen Völkern unterschiedliche Ansichten und Absichten darüber gibt. Der nun vorgeschlagene Gesetzestext sieht laut Medienberichten vor, dass die Entscheidungen über Aktivitäten in den Gemeinden von einem Beirat getroffen werden, die von den betroffenen indigenen Völkern gebildet werden und deren Vertreter:innen von den Gemeinschaften „gemäß ihrer normalen Art und Weise“, Anführer:innen und Delegierte zu wählen, ernannt werden. Angesichts unterschiedlicher Interessenslagen auch bei indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Zuvor hatte Bolsonaro Indigene mit „Tieren in einem Zoo“ verglichen, was zurecht heftigste Proteste der indigenen Völker Brasiliens hervorrief: „Die Rede von Bolsonaro und seinem Team über indigene Völker ist rückwärtsgewandt und behandelt uns respektlos, unsere Geschichte, unsere Abstammung, und mißachtet unser politisches-bürgerliches Handeln in Bezug auf den brasilianischen Staat. Der Präsident verglich uns mit Tieren im Zoo, die in einem Käfig gefangen seien, wenn er es mit dem Leben in unseren traditionellen Territorien vergleicht. Er macht absurde Aussagen über unsere Lebensweise und über unsere Wünsche als brasilianische Bürgerinnen. Ja, wir sind Brasilianerinnen! Wir sind Indigene! Wir wissen, was wir wollen, und wir verlangen das Recht, vom Staat zur Ausarbeitung und Umsetzung öffentlicher Richtlinien konsultiert zu werden!“


Die ILO-Konvention 169 wurde von Brasilien 2004 durch die Kammern des Kongresses ratifiziert und durch ein Präsidialdekret in nationales Recht umgesetzt. Laut Lesart des Obersten Gerichtshofs Brasiliens STF stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung Brasiliens, aber oberhalb jedweden Gesetzes. Dies würde im Falle der Gesetzesinitiative von Jair Bolsonaro zur wirtschaftlichen Inwertsetzung der indigenen Territorien bedeuten, dass das in Art. 6 und 7 der ILO-Konvention 169 festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation dem Präsidenten Jair Bolsonaro einen Strich durch die Rechnung machen könnte. In Artikel 6, Satz 2 der ILO-Konvention 169 heißt es: „Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“ Wenn also ein künftig vom Brasilianischen Nationalkongress auf Betreiben Bolsonaros beschlossenes Gesetz zur Inwertsetzung indigener Territorien durch industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Staudämme in Konflikt mit der ILO-Konvention 169 kommen und durch die internationalen Völkerrechtsverpflichtungen aufgehoben werden würde, wäre es für die Bolsonaros und Konsorten also zuerst wichtig, dass Brasilien vorher aus der Konvention austrete.
Dreh- und Angelpunkt im Streit zwischen den wirtschaftlichen Inwertsetzungsinteressen einer Bolsonaro-Regierung und den Schutzinteressen der indigenen Völker Brasiliens im Kampf um ihre Territorien ist die Frage der in Artikel 6 erwähnten zu erreichenden „Zustimmung“ der betroffenen Indigenen und wie die „Konsultation“ im Einzelnen auszusehen habe. Und genau in diesem Spannungsbogen zwischen „Konsultation“ und „Zustimmung“ bewegt sich seit Jahren auch die Auseinandersetzung um die Auslegung der ILO-Konvention 169 in Brasilien.
Projektbetreiber:innen und die Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in Brasília meinen meist, dass es ausreichen würde, Konsultationen in Form von abzuhaltenden Anhörungen durchzuführen. So ist es bei allen bisherigen Großinfrastrukturprojekten wie Überlandstraßen, Wasserkraftwerken und Staudämmen sowie Bergbaugenehmigungen geschehen. Es wurden Anhörungen durchgeführt, die oftmals nicht den Charakter einer freien, vorherigen und informierten Befragung hatten, die nicht „in gutem Glauben“ abliefen und die schon gar nicht eine Abstimmung, womöglich gar mit einem Vetorecht der betroffenen Indigenen, vorsahen.
Indigene Völker wie auch die zuständigen UN-Gremien und die ILO jedoch stehen klar auf dem Standpunkt, dass die ILO-Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent, FPIC) vorschreibt, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker (UNDRIP), die ebenfalls in mehreren Fällen FPIC verbindlich vorschreibt, insbesondere, wenn Territorien und Lebensgrundlagen indigener Völker betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht. Dabei setzt freie und informierte Zustimmung voraus, dass zuvor echte Konsultationen in gutem Glauben („good faith consultations“) stattgefunden haben. Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsexpert:innen und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung alle drei gleichermaßen Grundbedingung des Rechtsschutzes für indigene Völker. Und wenn die „Zustimmung“ erforderlich ist, muss dies im Umkehrschluss heißen, dass ein Projekt nicht durchgeführt werden kann, wenn die betroffenen Gemeinschaften ihre Zustimmung nicht geben. Ein Vetorecht also. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber bislang noch nicht entsprechend anerkannt.

FPIC in Brasiliens Rechtspraxis der vergangenen Jahre: Zwei eklatante Beispiele
Es war nicht alles gut, allein dadurch dass Brasilien die ILO-Konvention 169 unterzeichnet und ratifiziert hat. Denn bei der Rechtsauslegung des Wesensgehaltes von Gesetzen und Normen geht es immer auch um den Widerstreit verschiedener Interessen – und wie mächtig jemandes Interessen im Lande sind.
Eklatantestes Beispiel dafür waren die Anhörungen, die in der Xingu-Region anlässlich des Baus des Staudamms Belo Monte zur Zeit der Regierung Dilma Rousseffs von der brasilianischen Arbeiterpartei PT durchgeführt wurden. Die Informationen über die anberaumten Treffen in den Kreisorten erreichten nicht alle Betroffenen, die obendrein oft keine finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme hatten; Anwesenheit von Militärpolizisten sowie eine technische Sprache von Fachleuten, die auf die Bevölkerung einschüchternd wirkten sowie eine begrenzte Zahl von Treffen, die eher den Charakter einer Aussprache hatten; eine Abstimmung und somit die Möglichkeit eines Vetos war nicht vorgesehen. Hinzu kam das perfide Argument, dass indigene Völker vom Bau von Belo Monte ja nicht im Sinne der Brasilianischen Verfassung betroffen sein würden, da die Verfassung von 1988 Indigene nur dann als von Wasserkraftprojekten „Betroffene“ ansieht, wenn deren Ländereien geflutet werden. Im Fall Belo Monte gehe es aber „nur“ um eine Reduzierung der Wassermenge des Xingu-Flusses in der Volta Grande („Große Flussschleife“) um 80 Prozent. Was dies zur Folge hat, zeigt sich derzeit in einer katastrophal ausgetrockneten Großen Flusschleife am Xingu.
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (Inter-American Commission on Human Rights – IACHR) als Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington, D.C, hatte im April 2011 die brasilianische Regierung offiziell aufgefordert, den Bau des Belo Monte Damm-Komplexes zu stoppen, solange die erforderlichen Konsultationen indigener Völker nicht erfolgt seien. Der Staudammbau würde negative Auswirkungen auf indigene und andere traditionelle Gemeinschaften des Xingu-Beckens haben, besonders auf diejenigen, die an dem hundert Kilometer langen Abschnitt der Volta Grande (Große Flussschleife) leben. Die IACHR-Empfehlungen stimmten mit den Klagen seitens des Ministério Público (in etwa: Bundesstaatsanwaltschaft) von Pará darin überein, dass sie die brasilianische Regierung auffordern, Anhörungen durchzuführen, so wie es die Verfassung vorsieht, und die Zustimmung zum Projekt zu erreichen. Die Rousseff-Regierung war empört über die Empfehlungen, wies diese als absurd zurück, stellte zwischenzeitlich die Geldzahlungen an die Organisation Amerikanischer Staaten ein, berief seinen entsandten Botschafter zurück und drohte unverhohlen mir einem potenziellen Austritt aus der OAS. Letztlich geschah: Nichts. Belo Monte wurde fertiggestellt, erst vor wenigen Monaten wurde die letzte Turbine in Gang gesetzt.
Auch beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss an der Grenze von Pará zu Mato Grosso entschied zunächst ein Gericht einen Betriebsstopp, da die betroffenen Indigenen nicht angemessen gehört wurden. Anfang Dezember 2015 wurde in einem von der Bundesstaatsanwaltschaft angestrengten Prozess in zweiter Instanz entschieden, dass das seit Ende 2015 in Betrieb befindliche Wasserkraftwerk Teles Pires die Rechte der vom Staudamm betroffenen Indigenen Kayabi, Munduruku und Apiaká verletzt. Das Gericht der 5ª Turma do Tribunal Regional Federal da 1ª Região (TRF1) ordnete an, dass die Indigenen gemäß der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (Free Prior and Informed Consent, FPIC) nach der Definition der ILO Konvention Nr.169 befragt und um Zustimmung gebeten werden müssten. Eine solche Befragung und das Einholen der erforderlichen Zustimmung sei weder durch die brasilianische Regierung noch durch den Betreiber des Wasserkraftwerks eingeholt worden, so das Gericht in zweiter Instanz, nachdem zuvor Brasiliens Bundesregierung und die Staudamm-Betreiberin gegen die gleichausgefallene, erstinstanzliche Verurteilung Widerspruch bei Gericht eingelegt hatten. Das Gericht erklärte zudem die durch die Umweltbehörde Ibama erteilte Baugenehmigung für rechtswidrig und folgte darin der Staatsanwältin Eliana Torelly, die in ihrem Plädoyer in der Gerichtsverhandlung der zweiten Instanz erklärt hatte, dass das Wasserkraftwerk Teles Pires „die Verringerung der Fischarten, die Verseuchung des Flusswassers, Abholzung [von Regenwald zur Folge gehabt] und die natürlichen Ressourcen in Mitleidenschaft gezogen“ habe. Das Gericht führte in seiner Urteilsbegründung zudem an, dass durch den Staudammbau und die Flutung von 150 Quadratkilometer Landschaft die Stromschnellen Sete Quedas zerstört wurden. Diese Stromschnellen von Sete Quedas am Fluss Teles Pires aber, so das Gericht, seien für die indigenen Munduruku, die Kayabi und Apiaká heilige Orte. Dort lagerten bis zur Flutung für den Bau des Staudamms Teles Pires im Jahr 2013 die heiligen Urnen der Ahnen der Munduruku, Kayabi und Apiaká. Nur zwölf der Urnen wurden gerrettet und im Museum der Kleinstadt Alta Floresta gelagert. Wegen der Unantastbarkeit heiliger, sakraler Stätten sei eine Befragung und Zustimmung nach den Regeln der ILO-Konvention 169 zur freien, vorherigen und informierten Zuistimmung (FPIC) unablässlich, so das Gericht in seiner damaligen Entscheidung vom Dezember 2015.
Das Urteil zum Betriebsstopp war zwar ab Dezember 2015 rechtskräftig, gleichwohl konnte der Betriebsstopp nie vollstreckt werden. Dies hängt mit der sogenannten „suspensão de segurança“ zusammen. Diese steht für den Verweis auf vermeintlich höherwertige, nationale Interessen. Die „suspensão de segurança“ basiert auf einem Gesetz noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Das Gesetz aus dem Jahre 1964 definiert, dass das Außerkraftsetzen eigentlich verfassungsrechtlich vorgesehener Prinzipien mit dem Verweis auf höherwertige nationale Interessen durch die Regierung durchgesetzt werden kann. Dazu muss nur ein Mitglied des Obersten Gerichtshof eine diesbezügliche Eingabe machen, so dass der Bau oder laufende Betrieb des betreffenden Projekts vorerst durch keine Gerichtsurteile behindert werden darf. Dennoch muss auch diese Rechtseingabe seitens des Obersten Gerichtshofs irgendwann rechtskräftig und abschließend entschieden werden. Doch wann, das regelt das Gesetz nicht. So wies der Bundesstaatsanwalt Felício Pontes Jr. in seinem Plädoyer im Dezember 2015 vor Gericht darauf hin, dass „wir in allen Instanzen gewonnen haben, dass der Staudamm nicht ohne die vorherige Konsultation der Indigenen gebaut werden darf. Aber das Bauvorhaben wurde dennoch zum Abschluss gebracht. Die Indigenen leiden unter Krankheiten, die sie zuvor nicht hatten. Und das alles infolge einer politischen Entscheidung im Sinne der suspensão de segurança, einem Rechtskonstrukt aus der Militärdiktatur, einem Rechtskonstrukt, das es in einem demokratischen Land nicht geben dürfte.“
Die Indigenen Munduruku, Kayabi und Apiaká protestieren weiter gegen die Staudammbauten am Teles Pires-Fluss, wo ihre heiligen Stätten durch die Wasserkraftwerke zerstört wurden. Es gab mehrere Baustellenbesetzungen des Wasserkraftwerks São Manoel, das in Nähe des Wasserkraftwerks Teles Pires liegt. Im Dezember 2019 besetzten 70 Munduruku das Museum der Kleinstadt Alta Floresta und entnahmen die dort lagernden zwölf heiligen Urnen ihrer Vorfahren, die letzten erhaltenen Urnen aus dem überschwemmten heiligen Ort der Stromschnellen von Sete Quedas und verbrachten die Urnen in ihr Territorium.
Den Bau dieses umstrittenen Staudamms Teles Pires hatte übrigens die deutsche Münchener Rückversicherungsgesellschaft (Munich Re) gegen Schäden rückversichert. Eine Vertreterin der brasilianischen Widerstandsbewegung Movimento Xingu Vivo para Sempre war deshalb 2015 eigens zur Hauptversammlung der Münchener Rück nach München gereist, um die Konzernvorstände auf die Verstrickung der Firma beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss anzusprechen. Ihr war es vorbehalten, die entscheidende Frage zu stellen: „Am Teles Pires haben die Baufirmen einen riesigen Wasserfall gesprengt: Dieser Wasserfall heißt Sete Quedas. Für die Indigenen Kayabi, Apyaka und Munduruku ist Sete Quedas ihr heiligster Ort. Wie würden Sie reagieren, wenn eine Baufirma daherkommt und die Münchener Frauenkirche mit Bulldozern einreißt?“ Der damalige Vorstandsvorsitzende der Münchener Rückversicherungsgesellschaft, Nikolaus von Bomhard, hatte darauf keine Antwort. Manchmal spricht Sprachlosigkeit dann doch Bände.

Wehrhafte indigene Gemeinden vor Ort: Selbst-Erarbeitung eigener Konsultationsprotokolle
Um dem rechtlich noch ungeklärten Graubereich einer ILO-Konvention-169-konformen Rechtssprechung Nachdruck zu verleihen, haben in Brasilien ab dem Jahre 2014 mehr und mehr indigene Völker eigenständig erarbeitete Verfahrensprotokolle erstellt, um dergestalt ein rechtsgültiges Dokument in der Hand zu haben, mittels dessen sie fordern, dass ihre Konsultation nach ihren Regeln ablaufen soll. Wichtige Elemente sind dabei oft die indigene Sprache, der Ort (in den Gemeinden selbst), die Zeit (wichtig wegen jahreszeitlichen Arbeiten wie Ernte oder religiösen Riten), die Zeitdauer (jede/r kann solange reden, wie er/sie will), die Entscheidung, wer überhaupt von den Nicht-Indigenen teilnehmen darf, die Notwendigkeit der Rückkoppelung mit dem Gemeinden, so nicht alle anreisen können sowie natürlich die Frage nach dem Veto-Recht.
Mittlerweile gibt es an ein Dutzend solcher niedergelegter Verfahrensprotokolle in Brasilien, sowohl von indigenen Gemeinden und Völkern, als auch von anderen traditionellen Völkern und Gemeinschaften (Quilombolas, Ribeirinhos, etc). Am Ende dieses Textes findet sich beispielhaft das von den indigenen Munduruku erarbeitete Verfahrensprotokoll zur Konsultation in deutschsprachiger Übersetzung.
Die Bedeutung dieser autonom von den indigenen Gemeinschaften und Völkern erstellten Verfahrensprotokolle zur Konsultation sollte nicht unterschätzt werden. 2017 hatte erstmals ein Gericht eine Baugenehmigung für ein Bergbauunternehmen in Brasilien auf Basis des Rechtsarguments entzogen, dass das von der betroffenen indigenen Gemeinschaft erstellte Dokument zum Protokollverfahren der Konsultation von der Firma nicht befolgt worden war. Als das bekannt wurde, begannen sich mehr und mehr indigene und andere traditionelle Völker und Gemeinschaften der Erstellung solcher Protokolle zu widmen, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Bolsonaros Androhung der Kündigung der ILO-Konvention 169
Die Bolsonaro-Regierung jedenfalls gibt derzeit deutliche Anzeichen, dass sie die ILO-Konvention 169 – und auf deren Basis die eigenständige Erstellung von niedergelegten Protokollverfahren zur Konsultation indigener und anderen traditioneller Völker und Gemeinschaften – als Gefahr für ihre Anti-Indigenen-Rechte-Strategie ansieht und von daher einen Ausstieg Brasiliens aus der ILO-Konvention 169 androht. Als erste schickte die Bolsonaro-Regierung im März 2019 Brasiliens Botschafterin bei der UNO in Genf, Maria Nazareth Farani Azevêdo, vor, die öffentlich auf die Möglichkeit verwies, dass Brasilien die ILO-Konvention 169 verlassen könnte. Dann folgte im Oktober 2019 das direkt dem Präsidenten Brasiliens unterstellte Sicherheitskabinett GSI, das laut einem Pressebericht vom 4. Oktober 2019 die Bundesanwaltschaft AGU aufforderte, ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs STF aus dem Jahre 2006, das die Rechtsgültigkeit der von Brasilien 2002 ratifizierten ILO-Konvention 169 auch auf Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzer) bestätigte, auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Laut dem Pressebericht erinnert das GSI-Dokument auch an den nächstmöglichen Kündigungszeitraum, sollte Brasilien sich entscheiden, aus der ILO-Konvention 169 auszutreten: Dies könne, so das GSI-Dokument, zwischen dem 5.9.2021 und 5.9.2022 geschehen. Als Begründung für einen möglichen Austritt Brasiliens erwähnt das GSI-Dokument die „Auswirkungen der ILO-Konvention 169 auf die Entwicklung des Landes“. Das GSI-Dokument schlägt die Einrichtung einer Arbeitsgruppe vor, die einen neuen Vorschlag für ein Präsidaldekret erarbeiten solle, das den Modus Operandi der „vorherigen Konsultation indigener Völker und Stämme“ neu regeln soll. Auch hier liefert das mittlerweile mehrheitlich von Militärs dominierte GSI gleich eine Begründung: die bisherige Anwendung der ILO 169 beeinträchtige „Projekte mit nationalem Interesse“.
Diese Ankündigung sollten bei allen die Alarmglocken schrillen lassen.

Anhang:

Wie die Munduruku das Protokollverfahren zur Konsultation wollen
14.05.2017 | Übersetzung von Christian Russau

Die indigenen Munduruku vom Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós haben ein Grundlagendokument erstellt, in dem sie erklären, wie eine rechtlich korrekte Konsultation der Munduruku im Falle von Großprojekten wie Staudämmen auszusehen habe.
Quelle: Movimento Munduruku Ipereg Ayu, Associações: Da’uk, Pusuru, Wixaximã, Kerepo und Pahyhyp: Protocolo de Consulta Munduruku, Jan. 2016, unter: http://fase.org.br/pt/acervo/biblioteca/protocolo-de-consulta-munduruku/
Im Entstehensprozess des Dokuments, das in den indigenen Dörfern mit allen Munduruku 2015 gemeinsam debattiert und im Konsens verabschiedet wurde, war den Munduruku immer wichtig zu betonen, dass sie für sich selbst selbst reden und dass niemand Einzelnes ohne Weiteres für die Gruppe sprechen darf. Daher hier die Erklärung der Munduruku zum Protokollverfahren der Konsultation im Wortlaut:


„Wir, das Volk der Munduruku,
wir wollen hören, was die Regierung uns zu sagen hat. Aber wir wollen keine Ausreden. Damit das Volk der Munduruku entscheiden kann, müssen wir wissen, was tatsächlich geschehen wird. Und die Regierung muss uns anhören. Zuallererst fordern wir die Demarkation des Indigenen Territoriums Sawré Muybu. Auf gar keinen Fall akzeptieren wir eine Umsiedlung. Wir fordern von der Regierung zudem, dass unsere isoliert in unserem Land lebenden Verwandten geschützt werden und dass das Recht auf Konsultation der anderen Völker, wie der Apiaká und der Kayabi, die auch durch diese Projekte bedroht sind, garantiert werde. Außerdem fordern wir, dass den durch die Staudämme im Tapajós betroffenen Gemeinden der Flussanwohner von Montanha-Mangabal, Pimental und São Luiz ihr Recht auf Konsultation angemessen und ihrer besonderen Realität angepasst gewahrt werde. Genauso wie wir haben die Flussanwohner das Recht auf eigene Konsultation.
Wer soll konsultiert werden?
Die Munduruku aller Dörfer – des Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós – müssen konsultiert werden, auch diejenigen aus indigenen Gebieten, die noch nicht demarkiert wurden.
Soll die Regierung nicht denken, wir seien gespalten:
„Es gibt nur ein Volk der Munduruku“
Es sollen konsultiert werden:
• die weisen Alten, die pajés, die Geschichtenerzähler, die Kenner traditioneller Medizin, die Kenner der Wurzeln und der Blätter, diejenigen, die die heiligen Orte kennen.
• die Kaziken und Anführer, die Krieger und Kriegerinnen. Die Kaziken sind miteinander vernetzt und teilen die Informationen mit allen Dörfern. Es sind sie, die alle zusammenrufen, damit wir debattieren, was wir machen werden. Die Krieger und Kriegerinnen unterstützen den Kaziken, gehen mit ihm und schützen unser Territorium.
• die Anführer, die Lehrer sind, und die, die für die Gesundheit zuständig sind, die also, die mit der ganzen Gemeinschaft arbeiten.
• die Frauen, damit sie ihre Erfahrungen und Informationen weitergeben. Es gibt Frauen, die sind pajés, Hebammen und Kunsthandwerkerinnen. Sie bearbeiten das Feld, geben Ideen und Rat, bereiten das Essen zu, stellen medizinische Produkte her und verfügen über ein großes und breites traditionelles Wissen.
• die Universitätsstudenten, die Erzieher der Munduruku, die Ibaorebu-Studenten, die Jugendlichen und Kinder müssen auch konsultiert werden, weil sie die zukünftige Generation sind. Viele Jugendliche haben Zugang zu Kommunikationsmedien, lesen Zeitungen, gehen ins Internet, sprechen portugiesisch und kennen unsere Realität und haben aktiven Anteil an dem Kampf unseres Volkes.
• unsere Organisationen (Conselho Indígena Munduruku Pusuru Kat Alto Tapajós – Cimpukat, Da’uk, Ipereg Ayu, Kerepo, Pahyhy, Pusuru und Wixaximã) müssen auch konsultiert werden, aber sie dürfen niemals alleine konsultiert werden. Die Stadtverordneten Munduruku sprechen nicht für unser Volk. Die Entscheidungen des Volks der Munduruku werden kollektiv getroffen.
Wie soll der Prozess der Konsultation ablaufen?
• Die Regierung darf uns nicht erst dann konsultieren, wenn alle Entscheidungen schon getroffen sind. Die Konsultation muss vor allem anderen stattfinden. Alle Treffen müssen in unserem Territorium stattfinden – in dem Dorf, das wir auswählen –, und nicht in der Stadt, nicht einmal in Jacareacanga oder Itaituba.
• Die Treffen dürfen nicht zu Zeiten stattfinden, die die Aktivitäten unserer Gemeinschaft stören (also zum Beispiel nicht während der Feldarbeits-Saison des Feldfurchens oder des Pflanzens; nicht während der Zeit des Kastanien-Sammelns, nicht während der Zeit des Mehls, nicht während unserer Festtage; nicht am Tag des Indigenen). Wenn die Regierung in unser Dorf zur Konsultation kommt, dürfen sie nicht nur kurz einfliegen und am nächsten Tag wieder weggehen. Sie müssen in Ruhe mit uns Zeit verbringen.
• Die Treffen müssen in der Sprache Munduruku abgehalten werden und wir entscheiden, wer übersetzen wird. In diesen Treffen muss unser Wissen genauso anerkannt werden wie dies der pariwat (nicht-indigener). Weil es sind wir, die wir die Flüsse kennen, den Wald, die Fische und das Land. Es sind wir, die wir die Treffen koordinieren, nicht die Regierung.
• An den Treffen sollen die Partner unseres Volkes teilnehmen: Die Bundesstaatsanwaltschaft, die von uns ausgewählten Partnerorganisationen sowie Fachleute unseres Vertrauens, die wir auswählen. Die Unkosten unserer Anwesenheit und die unserer Partner während aller Treffen gehen auf Kosten der Regierung.
• Damit die Konsultation wirklich frei sein wird, werden wir auf den Treffen unter keinen Umständen bewaffnete pariwat (Militärpolizei, Bundespolizei, Bundesstraßenpolizei, Heer, Nationaler Sicherheitskräfte, Brasilianischen Geheimdienst oder jedwede anderen staatlichen oder privaten Sicherheitskräfte) akzeptieren.
• Wenn die Regierung mit Kameras ankommt, darf sie ohne unsere Autorisierung keine Aufnahmen machen. Zu unserer Sicherheit sollen die Treffen gefilmt werden und die Regierung muss uns die vollständigen Kopien der Aufnahmen übergeben.
Die von uns bisher angesprochenen Treffen teilen sich in folgende auf:
• Treffen zum Beschluss über den Plan für die Konsultation: Die Regierung muss sich mit dem Volk der Munduruku treffen, damit wir eine Übereinkunft treffen, welchen Plan wir für die Konsultation festlegen. Dieser Plan für die Konsultation muss dieses Dokument hier in Gänze respektieren, da es erklärt, wie wir uns organisieren und wie wir unsere Entscheidungen treffen.
• Informationstreffen: Die Regierung muss sich mit unserem Volk treffen, in jedem Dorf einzeln, um uns über ihre Vorhaben zu informieren und unsere Zweifel und Nachfragen zu beantworten. Neben uns sollen die Partner unseres Volkes an diesem Treffen jeweils teilnehmen.
• Interne Treffen: Nach diesen Informationstreffen brauchen wir Zeit zum Diskutieren unter uns über die Vorschläge der Regierung. Wir werden Zeit brauchen, um den Vorschlag den Verwandten, die nicht an den Informationstreffen teilnehmen konnten, zu erläutern. Des Weiteren wollen wir uns mit den Flussanwohnern (beispielsweise mit denen von Montanha-Mangabal) treffen und beratschlagen. Wir werden unsere Partner zu unseren internen Treffen hinzuladen. Aber die Regierung darf dabei nicht anwesend sein. Sollten Unklarheiten oder neue Informationen aufkommen, dann muss die Regierung weitere Informationstreffen mit uns und unseren Partnern abhalten. Danach dann würden wir weitere Treffen mit unseren Partner, ohne die Regierung, machen, um die Unklarheiten zu klären und um zu debattieren. Egal wie viele Treffen dafür notwendig wären, damit das Volk der Munduruku sich vollständig informiert
• Verhandlungstreffen: Wenn wir hinreichende Informationen haben und mit unserem ganzen Volk debattiert haben, wenn wir also eine Antwort an die Regierung haben, dann muss die Regierung sich mit uns, in unserem Territorium treffen. An diesem Treffen sollen auch unsere Partner teilnehmen. Die Regierung muss zuhören und auf unseren Vorschlag antworten, selbst wenn unser Vorschlag anders als der von der Regierung sei. Und wir mahnen: Wir akzeptieren nicht, dass die Regierung Rechte so einsetzt, wie die, die uns eigentlich zustehen, aber nie respektiert werden, um uns letztlich reinzulegen.
Wie treffen wir Munduruku unsere Entscheidungen?
• Wenn ein Vorhaben uns alle betrifft, dann ist unsere Entscheidung eine kollektive. Die Regierung darf nicht nur einen Teil des Volks der Munduruku konsultieren (sie darf zum Beispiel nicht nur die Munduruku des Mittleren Tapajós oder nur die des Oberen Tapajós konsultieren).
• Keine Vereinigung der Munduruku entscheidet für das Volk der Munduruku, keine Organisation redet für unser Volk. Die Entscheidungen unseres Volks werden auf der Vollversammlung getroffen, die durch unsere Kaziken einberufen wird. Es sind unsere Kaziken, die gemeinsam und zusammen Zeit und Ort der Generalversammlung festlegen und die Munduruku zur Teilnahme einladen. Auf diesen Versammlungen werden die Entscheidungen im Anschluss an die Debatte getroffen: Wir diskutieren und kommen zu einem Kosens. Wenn es nötig ist, diskutieren wir viel. Wir stimmen nicht ab. Wenn es keinen Konsens gibt, entscheidet die Mehrheit.
Was erwartet das Volk der Munduruku von dieser Konsultation?
„Wir erwarten, dass die Regierung unsere Entscheidung respektiert. Wir haben Veto-Recht.
Sawe!!“

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Transamazônica aus Protest gegen Belo Monte besetzt https://www.gegenstroemung.org/web/blog/transamazonica-aus-protest-gegen-belo-monte-besetzt/ Tue, 10 Nov 2020 11:45:58 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2146 Belo Monte Staudamm gräbt den Bewohner:innen der Volta Grande das Wasser ab, Bewohner:innen setzen sich mit Sperrung der Bundesstraße Transamazônica zur Wehr.

Gestern Früh, am Montag, den 9. November gegen 9 Uhr Ortszeit, haben etwa 150 Fischer:innen, Flussuferbewohner:innen, Kleinbäuerinnen und -bauern und Indigene Curuaya und Xipaya aus den Gemeinden Altamira, Senator José Porfírio, Brasil Novo, Anapu und Vitória do Xingu die Bundesstraße der Transamazônica bei Altamira in Höhe Kilometer 27 besetzt, um gegen Norte Energia, die Staudammbetreiberin von Belo Monte in Pará, zu protestieren. Dies berichtet die Widerstandsorganisation Xingu Vivo para Sempre auf ihrer Webseite. Den Protestierenden zufolge hält sich Norte Energia nicht an die gesetzlich festgelegten Vorgaben zur Freigabe von genügend Wasser zwischen November 2020 und März 2021, um das Laichen der Fische der Region („Piracema“) im Jahr 2021 in der Volta Grande do Xingu zu ermöglichen. Noch am gleichen Morgen, so berichtet es Xingu Vivo para Sempre, kam die für Bundesstraßen zuständige Bundes-Autobahnpolizei, um die Demonstration in Augenschein zu nehmen, aber vorläufig wurden seitens der Behörden keine Versuche unternommen, die Demonstrierenden von dort zu räumen.

Es geht vor allem um die Große Flussschleife des Xingu-Flusses, die Volta Grande do Xingu, ein Abschnitt von etwa 100 Kilometern Läge, der durch den Bau des flussaufwärts gelegenen Reservoirs für den Staudamm Belo Monte vom Großteil des Wasserdurchflusses des Xingus abgeschnitten wurde. Seit der Inbetriebnahme von Belo Monte hat sich die Lage an der Volta Grande drastisch verändert, da das Wasser zu den Turbinen von Belo Monte umgeleitet wird. Den Demonstrant:innen zufolge hat der niedrige Wasserstand der Volta Grande in den letzten zwei Jahren die Piracema verhindert, was zu einer rasch sichtbaren Dezimierung der im Fluss vorkommenden Fische, darunter auch endemische Fische, und in der Folge dessen zu einer Krise der Ernährungssicherheit und des Einkommens derer, die vom Fischfang leben, geführt habe. Zudem führe der sehr niedrige Wasserstand des Xingu in der Volta Grande dazu, dass es den lokalen Anwohner:innen immer schwerer wird, den Fluss mit ihren kleinen Booten zu befahren, bei Niedrigstand sind sie immer öfter gezwungen, ihre Ladung und Boote über trockenen Fels zu tragen. Die Demonstrant:innen weisen laut dem Bericht bei Xingu Vivo zudem darauf hin, dass die Situation seit Beginn der Covid-19-Pandemie im März dieses Jahres mittlerweile katastrophale Ausmaße angenommen habe.

Jetzt im Jahr 2020 erlebt die Region des Mittleren Xingu eine der schwersten Dürreperioden der letzten 50 Jahre, so Xingu Vivo. Viele Nebenflüsse des Xingu seien ausgetrocknet, was ein Fischsterben zur Folge habe und zu einem beschleunigten Verlust der Felder der Volta Grande-Bauern geführt habe, da diese ihre oft biologischen Kakaoplantagen nicht mehr hinreichend bewässern können. Laut den Protestierenden hat der durch Belo Monte verschärfte Wasserstress in der Region des Mittleren Xingu die Nahrungsmittelproduktion und die wirtschaftliche Tätigkeit der Bauernfamilien ebenfalls beeinträchtigt.

Nach Angaben der Demonstrant:innen fordern sie die Umweltbehörde Ibama auf, die Betriebsgenehmigung für Belo Monte auszusetzen, solange bis Norte Energia einen Mindestfluss von 16.000 m3/s in der Volta Grande do Xingu für März und April garantiert, damit die Reproduktion von Fauna und Flora während der Piracema-Periode gewährleistet werden könne.
// christian russau

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Wiederholtes Fischsterben durch EDF-Wasserkraftwerk Sinop am Teles Pires-Fluss https://www.gegenstroemung.org/web/blog/wiederholtes-fischsterben-durch-edf-wasserkraftwerk-sinop-am-teles-pires-fluss/ Fri, 21 Aug 2020 09:26:01 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2088 Betreiberin sieht Fischsterben als normalen Vorgang, der in der Umweltgenehmigung vorgesehen ist.

Zum wiederholten Male sind hunderte von Fischen verschiedener Arten im Fluss Teles Pires infolge des Betriebs des Wasserkraftwerks Sinop in den Bezirken Cláudia und Itaúba, 70 Kilometer von der Kleinstadt Sinop entfernt im zentralbrasilianischen Bundesstaat Mato Grosso, gestorben. Das 400-MW-Wasserkraftwerk liegt in direkter Anbindung an die Soja-Route der Bundesstraaße BR-163. Zunächst gab es mehrere Berichte von Fischer:innen, die eine große Anzahl von Piau, Matrinchã, Pacu, Curimba, Cachara, Tucunaré und anderen Arten tot im Wasser treibend in der Nähe des Staureservoirs des Wasserkraftwerks sichteten. Die Fischer:innen nahmen Bilder von den vielen toten Fischen unterschiedlicher Größe und Gewicht auf, die an den Ufern des Flusses lagen.

Die Betreiberfirma des Wasserkraftwerks, die Companhia Energética Sinop, die unter anderem der franzöischen EDF gehört, teilte zu dem Vorgang auf ihrer Webseite mit, dass „infolge der Dürre der Wasserstand des Reservoirs bis nahe an die Minimalgrenze gesunken ist und die Kraftwerksblöcke gestoppt werden mussten. Vor diesem Hintergrund wurden entlang des Kraftwerkstaudamms schwimmende Fischarten beobachtet. Sofort beauftragte das Unternehmen die Teams mit der Abholung der Kadaver und ihrem korrekten Bestimmungsort“. Presseberichten zufolge war der Wasserspiegel wegen Trockenheit stark gefallen, so dass die Turbinen abgeschaltet und die Überläufe geschlossen werden mussten. Zur Ursache erklärte die Companhia Energética Sinop: „Die aquatische Umwelt in der Nähe des Reservoirs kann sich vorübergehend verändern und sich gelegentlich auf die Fische auswirken. Es ist jedoch erwähnenswert, dass diese Art von Manöver zum Betrieb eines Wasserkraftwerks gehört und in der Umweltgenehmigung vorgesehen ist. Die Standortbedingungen werden beobachtet, um die Hypothese des eingetretenen Ereignisses unter Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte zu bewerten, damit so schnell wie möglich die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden können. Die Companhia Energética Sinop bekräftigt, dass sie die Gesetzgebung und die Umweltgenehmigungen einhält und ihr Engagement für die Umwelt und die Erzeugung sauberer und erneuerbarer Energie schätzt“, sagt das Unternehmen.

Doch lokale Medien wollten diese Erklärung nicht so einfach stehen lassen. Laut Aussage eines anonym bleibenden Spezialisten war die Folge der Schließung der Anlage stehendes Gewässer, in dem es schnell an Sauerstoff für die im Wasser lebenden Fische mangelte. Denn, so der Spezialist, laut Umweltgenehmigung hätte die Firma vor Flutung des Staureservoirs bis zu 80 Prozent der im Gelände vorhandenen Vegetation entfernen müssen, damit diese absterbende Biomasse nicht später klimaschädliches Methan in die Umwelt entlasse und auch nicht zur Umkippung des Sees beitragen dürfe. Laut dem anonymen Spezialisten habe die Firma aber statt 80 nur 30 Prozent der Biomasse entfernt.

Die Umweltbehörden widersprechen zudem der Firma, dass Vorgänge wie solch ein Fischsterben durch die Umweltfolgenstudie als eine mögliche Folge definiert worden sei, die qua Umweltgenehmigung erlaubt wäre. Denn dies sind zwei verschiedene Sachen. Eine ist die Warnung vor dem Ereignis in der Umweltfolgenstudie, die andere wäre, dass die Umweltgenehmigung dies erlauben würde. (https://www.sonoticias.com.br/geral/sinop-tem-nova-mortandade-de-peixes-no-teles-pires/)

Dies war nicht das erste Fischsterben wegen des Wasserkraftwerks Sinop. Bereits im Februar 2019 starben rund 13 Tonnen Fisch und erst im März 2020 kam es damaligen Presseberichten zufolge „zum größten Fischsterben seit der Inbetriebnahme des Wasserkraftwerkes“.

Dabei ist es seit Jahren bekannt, welche schwerwiegenden Auswirkungen Staudämme und Wasserkraftwerke auf die Fischbestände haben.

Beispiel Rio Madeira: Der Bau der zwei Staudämme am Rio Madeira, Jirau und Santo Antonio, hat zu einem Rückgang der Fischbestände um 40 Prozent geführt. Dies ging aus einer wissenschaftlichen Studie der Universidade Federal do Amazonas hervor, aus der brasilianische Medien berichteten. Laut Rogério Fonseca von der Universidade Federal do Amazonas und Ko-Autor der in Umweltzeitschrift Revista Ambio zusammengefassten Studie habe der durch die Staudammbauten veränderte Wasserfluss und die durch die Wehrfunktion der Dämme behinderte Fischdurchgängigkeit zu einem massiven Rückgang der Fischpopulationen und mithin der Erträge der Fischerinnen und Fischer geführt. Allein im Munizip Humaitá beliefen sich die Ertragsverluste demnach auf 342 Millionen Reais. In einigen Fällen berichteten die Fischerinnen und Fischer, dass sich ihr Fangergebnis von 200 bis 300 Kilo auf rund 50 Kilo reduziert habe. Der Pressebericht gab aber keine Erklärung über den Zeitrahmen dieser Fanggrößen an. Hinzu käme aber, so Rogério Fonseca, dass etliche der Fischerinnen und Fischer, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr wie zuvor bestreiten könnten, sich illegalen Tätigkeiten, wie Holzfällen, Goldschürferei oder Landtitelbetrug zugewandt hätten, um ihr finanzielles Überleben zu sichern.

Jirau und Santo Antonio sind in den Medien zwei alte Bekannte. Jirau und Santo Antonio wurden 2011 berühmt-berüchtigt durch die Arbeiter*innenproteste von zigtausenden Arbeiter*innen, die sich gegen die schlechte Bezahlung, schlechte Unterbringung und Verpflegung zur Wehr setzten. Jahre später schlug vor allem der Arbeitsstreik und die Revolte juristische Kapriolen zwischen Brasilien und Großbritannien, weil die Versicherer und Baufirmen sich um die Frage stritten, wer die Kosten für die Arbeiter:innenrevolte zu tragen habe und welcher Gerichtsort für die Klärung dieser Fragen zuständig sei: Die eigentlich zuständigen Gerichte in Brasilien oder der in den Beschaffungsverträgen (illegal, da gegen die Brasilianische Verfassung verstoßend) niedergeschriebenen Gerichtsort London des privaten Schiedsgerichtes Arias. Auch hier, nur en passant, zur Erinnerung die Namen der beiden großen Versicherungsunternehmen aus Deutschland, die sich für die Staudämme am Rio Madeira an den Versicherungsdienstleistungen beteiligten und stets betonten, es handele sich dabei um „grüne“ Energie und die Umweltverträglichkeitsprüfungen würden genau studiert, es bestehe keine Gefahr für die Umwelt, und schon gar nicht für die Fischpopulationen: Am Versicherungspool von Santo Antonio beteiligte sich die Münchener Rück, und am Pool von Jirau die Allianz.

Zur Frage der durch Staudammbauten in Amazonien bedrohten Fischarten und den Rückgang der Fischerträge der unzähligen Kleinfischerinnen und -fischer gab es auch beim Bau des damals weltweit drittgrößten Staudamms, Belo Monte (auch hier wieder damals mit dabei: u.a. Allianz und Münchener Rück), viel Ärger, Streit und Ungereimtheiten. Nicht nur stellte sich nach Inbetriebnahme der ersten Turbinen heraus, dass die Turbinen große Bestände der Fische regelrecht zerhacken. Schon vorher gab es Probleme: „Wir lebten vom Fischfang, nun ist da nichts mehr“, berichteten die Flussanwohnerinnen und -anwohner bereits 2011, da sich im Fluss wegen der Bauarbeiten für den Kofferdamm die Fischbestände bereits verringerten. Im gleichen Jahr hatte ein Bundesgericht die Bauarbeiten wegen der Bedrohung der Zierfischerei vor Ort zwischenzeitig gestoppt. Der Fisch im Xingu ist nicht nur Nahrungsquelle für die lokalen Flussanwohnerinnen und -anwohner, das Fangen und der Export von Zierfischen nach Übersee schaffen Arbeit und Einkommen für Hunderte von Familien vor Ort und sicherte deren Überleben. Im Jahr 2012 hatten 800 Fischerinnen und -innen dann die Baustelle von Belo Monte mehrtägig besetzt, um auf den starken Rückgang der Fischbestände hinzuweisen.

All dies hatte die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die im Auftrag der Bauherrin erstellt wurde, so nicht vorausgesehen. Die bedrohten Schildkrötenarten fanden Eingang in die UVP, medienwirksam wurden Schildkröteneier umgesetzt, aber Fernsehkameras zeichneten auch das unsachgemäße Verbringen der Eier auf, in ungeschützten Kübeln gestapelt. Die UVP sah einige lokale Fischpopulationen temporär durch die Bauarbeiten beeinträchtigt, aber nicht vom Aussterben bedroht. Dabei hatte selbst die Umweltbehörde Ibama in einer Stellungnahme im November 2009 sich darüber beschwert, dass politischer Druck ausgeübt werde und dass unklar bliebe, was mit dem Fischbestand geschehen wird auf den 100 Kilometern Flusslauf des Xingu, die zu 80 Prozent trocken gelegt werden durch den Staudammbau. Nur: diese Stellungnahme wurde damals leider als nicht öffentlich einsehbar deklariert.

2015 meldete sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Fischpopulationen von 400 Spezies des Xingu-Flusses untersucht haben. Die Forscherinnen und Forscher der Bundesuniversität von Pará vermeldeten dabei, zumindest einer der bislang als endemisch nur in der Großen Flussschleife des Xingu geltenden Fische, pacu-capivara (Ossubtus xinguensis), sei durch Belo Monte nun doch nicht vom Aussterben bedroht. Pacu-capivara, ein kleiner Fisch, sei auch flussaufwärts in von Belo Monte unbeeinträchtigten Populationen gesichtet worden. Also keine Gefahr? Nur stellte sich amals heraus, dass die Bundesumweltbehörde Ibama bereits 2010 diesen Fisch explizit als durch den Staudammbau bedroht eingestuft hatte. Wer hatte denn nun recht? Der seit Jahrzehnten in Amazonien lebende und forschende Wissenschaftler Philip Fearnside wies explizit auf die Bedrohung der Fische hin. Denn der Staudammbau behindere massiv die Migrationsbewegungen der Fische – und die lokalen Auswirkungen in der Großen Flussschleife, die bei dann nur noch 20-Prozent-Wasserfluss nicht mehr dem lokalen Habitat der Fische entspräche, trügen auch ihren Teil zur Auslöschung der Populationen bei. Es reicht nicht zu sagen, es gab vor dem Staudammbau ober- wie unterhalb des Staudamms Fischpopulationen, denn es bedarf immer einer Mindestgröße einer Fischpopulation zum Überleben, genauso wie es eben bei Wanderfischen die Fischdurchgängigkeit braucht.

Hinzu kommen grundsätzlich Bedrohungen bei Veränderungen von Fließ- zu Staugewässern mit vermindertem Sauerstoffgehalt in tieferen Wasserschichten. Ähnliche Schlussfolgerungen hatte im Jahr 2009 ein 40-köpfiges Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Universitäten über Belo Monte gezogen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisierten die unvollständigen und mit heißer Nadel gestrickten Umweltstudien scharf, wiesen auf die Widersprüche der Studien hin und mahnten, dass die sozialen Folgen und Konsequenzen für die Umwelt durch das Staudammprojekt Belo Monte schwerwiegend sein würden. Laut ihrer Analyse sind durch Belo Monte schätzungsweise 100 Fischarten bedroht. Bislang sind 26 Fischarten bekannt, die nur am Xingu vorkommen. Würden alle im Amazonasgebiet geplanten Dämme gebaut werden, so die Wissenschaftlerinnen bereits im Jahre 2009, würde dies sogar die Vernichtung von bis zu 1.000 Fischarten bedeuten.

Über das tatsächliche Ausmaß des Artenverlustes gibt es allerdings bis heute kaum verlässliche Angaben, denn die Artenvielfalt vor Ort ist immer noch viel zu wenig erforscht, um abschätzen zu können, welche Verluste durch Großprojekte verursacht werden. Die offizielle Liste der in Brasilien bedrohten Fischarten zählt 133 auf, unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprachen einer Studie aus dem Jahr 2015 zufolge von 819 bedrohten Fischarten in Brasilien. Viele Studien, ebenso viele Meinungen. Wer hat denn nun recht? Schwer zu sagen. Ohne großangelegte, systematische Studien ist das nicht herauszufinden.

Die Journalist:innen des investigativen Portals A Pública wiesen ebenfalls bereits 2015 auf einen weiteren, eher unbeachteten Punkt hin: Die Umweltfolgenstudien zu Sozialem, zu Flora und Fauna bei Staudammbauten werden im Auftrag der Baufirmen von den Consultings erstellt, was schon hinreichend Anlass zu Kritik gibt. Aber mehr noch: Die Consultings partizipieren mitunter hinterher auch an den von ihnen zuvor geprüften Projekten. So hat Engevix Engenharia für den Staudamm Belo Monte die UVP erstellt – und Engevix Construções (von der gleichen Gruppe) hat hinterher zusammen mit Toyo Setal die elektromechanische Ingenieursdienstleistung für Belo Monte in Höhe von umgerechnet rund 300 Millionen Euro übernommen: siehe hierzu „Die unerträgliche Leichtigkeit der Umweltverträglichkeitsprüfungen„. Ein Schelm, wer Böses…

Auch das Beispiel des am Tapajós bis Mitte 2016 von der Regierung in Planung stark vorangetriebenen, dann aber im August 2016 wegen Ungereimtheiten bei der Umweltverträglichkeit gestoppten Staudammprojekts São Luiz do Tapajós verdeutlicht die Problemlage der durch Staudammbauten ausbleibenden oder gar aussterbenden Fischpopulationen und was das für die Fischerinnen und Fischer bedeutet: Obwohl sich die Verfasserinnen und Verfasser der UVP zum Staudammprojekt São Luiz do Tapajós und deren Kritiker:innen einig sind, dass diese Staudämme Auswirkungen und Folgen haben, scheiden sich die Geister an der Frage, wie massiv und folgenschwer diese zu bewerten sind. So ist es unbestritten, dass der Bau des São Luiz do Tapajós-Staudamms einen Verlust von Biodiversität vor Ort zeitigen würde. Die UVP selbst erfasste unter anderem 1.378 Pflanzenarten, 600 Vogelarten, 352 Fischarten, 109 Amphibienarten, 95 Säugetierarten sowie 75 Schlangenarten. Wo aber die UVP beispielsweise von Beeinträchtigungen der Schildkröten, Flussdelfin- und Fischpopulationen spricht, die aber durch entsprechende Maßnahmen abgemildert werden könnten, werfen Kritiker:innen wie die Autor:innen der 2016 veröffentlichten Greenpeace-Studie der UVP vor, die Daten nicht angemessen bewertet zu haben, da diese Populationen durch den Staudammbau gar in ihrem (oftmals endemisch, also einzigartigen nur dort vorkommenden) Bestand als Population bedroht sind.
Und diese Fragen ziehen dann weitere Konsequenzen – auch für Fragen des bedrohten Rechts auf Nahrung und Ernährungssouveränität der betroffenen Bevölkerung – nach sich, wie eben das Beispiel der Fischpopulationen anschaulich klarmacht.
Für die Umweltverträglichkeitsprüfung zum Staudamm São Luiz do Tapajós wurde eine Erhebung der wirtschaftlichen Aktivitäten der im betroffenen Einzugsgebiet des Staudamms lebenden Flussanwohnerinnen und -anwohner vorgenommen. Demnach lebt die Mehrzahl der Betroffenen in Subsistenz, als Acker- und Kleinviehwirtschaft betreibende Kleinbäuerinnen und -bauern, deren hauptsächliche wirtschaftliche Aktivität in der Herstellung von Maniokmehl aus selbst angepflanzten Maniokwurzeln sowie aus Fischfang besteht. Diese verkaufen den von ihnen produzierten Überschuss an Maniokmehl und aus dem Fischfang an die lokal arbeitenden, aber dort nicht heimischen Goldschürfer:innen. So kommt es, dass eigentlich in Subsistenz lebende Kleinbäuerinnen und -bauern in Erhebungen auch als dem Dienstleistungssektor zugezählt werden, obwohl dies nur einen Randbereich ihrer beruflichen Aktivität darstellt, die eben vorwiegend von Subsistenzwirtschaft geprägt ist. 55% der im Einzugsgebiet des São Luiz do Tapajós-Staudamms am Fluss lebenden Menschen praktizieren Fischfang, für 31% von diesen ist dies ihre hauptsächliche wirtschaftliche Aktivität, so die UVP der Staudammplaner (Eletrobras/CNEC/Worley Parsons: RIMA. Relatório de Impacto Ambiental AHE Sao Luiz do Tapajós, Juli 2014, S. 67.). Dabei überwiegt die Nutzung des Fisches als Subsistenz, nur ein geringer Teil wird in den Kleinstädten Jacareacanga (80 t/Jahr) und Itaituba (400 t/Jahr) auf den wenigen vorhandenen Fischmärkten umgeschlagen (Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.483.), aber diese Daten sind dennoch enorm wichtig, um Rückschlüsse auf die Bedeutung der verschiedenen Fischpopulationen zu ziehen. Von den in der Umweltverträglichkeitsprüfung der Staudammplaner festgestellten 352 im Umfeld des geplanten São Luiz do Tapajós-Staudamm heimischen Fischarten (ältere Studien zum Tapajós zählten hingegen 494 Fischarten, siehe Ricardo Scoles: Caracterização ambiental da bacia do Tapajós, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.35.) sind zwar nur 42% Wanderfische (siehe Eletrobras/CNEC/Worley Parsons: RIMA. Relatório de Impacto Ambiental AHE Sao Luiz do Tapajós, Juli 2014, S. 60.), aber die auf den Märkten von Jacareacanga und Itaituba feilgebotenen, lokal gefangenen Fische setzen sich Erhebungen zufolge wegen ihres massenhaften Vorkommens im Fluss zu 50 bis 90% aus saisonalen Wanderfischen zusammen, die zum Laichen andere Habitate aufsuchen (siehe Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.479.). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Studien warnen ausdrücklich, dass der Zug dieser Wanderfische durch den Staudammbau abgeschnitten werde und dies so das Aussterben der Populationen in den durch Staudammbau von einander isolierten Gebieten zufolge haben könnte (siehe Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.490.).

Dies verdeutlicht, worum es letztlich geht: Um das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität.

// christian russau

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José Carlos Arara: immer aktiv im Widerstand gegen Belo Monte – nun hat ihn Covid-19 getötet https://www.gegenstroemung.org/web/blog/jose-carlos-arara-immer-aktiv-im-widerstand-gegen-belo-monte-nun-hat-ihn-covid-19-getoetet/ Thu, 11 Jun 2020 10:36:09 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2062 José Carlos Arara, Anführer der Arara-Indigenen der Terra Indígena Terrã Wãgã an der Volta Grande do Xingu und wichtiger Aktivist im Kampf gegen den Staudamm Belo Monte, ist am Dienstag, dem 9. Juni dieses Jahres an der dem Sars-Cov-2-Virus geschuldeten Krankheit Covid-19 verstorben. Er kämpfte gegen Belo Monte und Belo Sun, brachte das Gebahren der Firmen zur persönlichen Anzeige bei der Bundesstaatsanwaltschaft und war stets ein integrer Kämpfer, Verteidiger der Menschenrechte. Auch offen ausgesprochene Morddrohungen gegen ihn konnten ihn nicht von seinem Kampf abhalten.


In Erinnerung an Zé Carlos, wie ihn alle nannten, dokumentieren wir hier den Abschnitt aus dem Buch „Abstauben in Brasilien. Deusche Konzerne im Zwielicht“, in dem es um Zé Carlos ging:

Zé Carlos gehört zu denen, die wenig lächeln. Er ist wütend wegen dem, was vor nicht allzu langer Zeit seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, zugestoßen ist. Zé Carlos Arara ist der indigene Anführer, der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, einer rund 100 Kilometer langen natürlichen Flussschleife des Xingu liegt, flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses. Als Abkürzung des Flusslaufes haben die Staudammbetreiberin, das größtenteils aus staatlichen Energieversorgern zusammengesetzte Firmenkonsortium Norte Energia, und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswassers in das große Staureservoir leitet, das der Deich Nr. 6C sichert. Ende Februar 2016 war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller, als von den IngenieurInnen geplant, volllief. Oder aber diese hatten sich gründlich verrechnet.
Im Dorf der Arara leben über 100 Menschen, und sie verfügen über Radiofunk, über den sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Ende Februar war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy, und ein Mitarbeiter von Norte Energia rief an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen würden und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die AnwohnerInnen davon in Kenntnis setzen könne? „Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt: ‚Kann man das nicht morgen machen? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“. Das gibt Zé Carlos Arara Mitte März 2016 in Altamira der Bundesanwältin Thaís Santi zu Protokoll. Die Bundesstaatsanwältin ermittelt seit Jahren gegen die Betreiber- und Baufirmen von Belo Monte, hat bereits mehrere Klagen gegen sie eingereicht. Gemeinsam mit ihren KollegInnen der Bundesstaatsanwaltschaft in Belém sowie den LandesstaatsanwältInnen des Bundesstaats Pará nehmen sie die Beschwerden der von Belo Monte betroffenen Bevölkerung auf, ermitteln und erheben Anklage vor Gericht, um die Rechte der Betroffenen zu schützen. Doch die Gerichte lassen sich meist reichlich Zeit.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die BewohnerInnen der aldeia vorher gewarnt worden waren. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik davon. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche auf 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte. „Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, so Thaís Santi. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“ Die Bundesstaatsanwältin erklärt, dass es eine Vereinbarung gegeben habe, wonach man sofort nach der Versteigerung der Baulizenz für Belo Monte mit der Umsetzung des Plans zum Schutz der indigenen Bevölkerungen hätte beginnen müssen. Dieser wurde von der Indigenenbehörde Funai festgelegt und sieht für die indigenen Dörfer neben dem Bau von Schulen, Gesundheitsposten und Häusern sowie der Schaffung von alternativen Einkommensmöglichkeiten für die Indigenen die angemessene Konsultation und Beratung, Entschädigungen in Form von Konsumgütern sowie die Zusicherung vor, dass sich die Lebenssituation der Indigenen nicht verschlechtern dürfe. Am Rio Xingu gibt es laut diesem Schutzplan mehr als 30 indigene Dörfer und Territorien. Ein paar der Gebäude wurden gebaut, aber die ÄrztInnen fehlen. Die Indigenen bekamen Motorboote, aber zu wenig Benzin. Sie erhielten Mopeds, aber die Erdstraße ist bei Regen unbefahrbar. Sie erhielten Dieselaggregate zur Stromproduktion, aber nicht genug Diesel. Dann wurde eine Überlandleitung gebaut, die Dörfer wurden an das Stromnetz angeschlossen, und als Erstes wurden Stromzähler installiert. Die Flachbildschirme laufen den ganzen Tag, da die Menschen nicht mehr fischen gehen können, und die Stromrechnungen können sie nicht bezahlen. Dass die Indigenen angemessen konsultiert und befragt werden, dass ihnen garantiert wurde, es würde ihnen mit dem Staudamm nicht schlechter als zuvor gehen, und dass den betroffenen Indigenen durch kulturelle Maßnahmen ihre Identität bewahrt werde, das stellen die KritikerInnen infrage. All das hätte eigentlich schon 2010 passieren müssen. „Aber bis heute wurde dahingehend rein gar nichts unternommen“, kritisiert die Bundesstaatsanwältin.
Was umgesetzt wurde, sind „Computer, Cars and Cash“. So kommentiert es Todd Southgate, ein kanadischer Dokumentarfilmer. Seit Jahren beobachtet er die mit dem Staudammprojekt Belo Monte zusammenhängenden Veränderungen in den aldeias der Volta Grande. Wo die Indigenen am Xingu zuvor fischten und sich selbst versorgen konnten, trinken sie nun gelieferte Softdrinks aus PET-Flaschen, schauen unterirdische Fernsehshows der Medienzentralen aus dem Süden des Landes und können Fisch meist nur noch essen, wenn sie in die Stadt fahren und dort im Supermarkt Tiefkühlfisch aus Südbrasilien, Thailand oder dem Nordatlantik kaufen. „Die vielfältige indigene Kultur am Xingu wurde durch Belo Monte in all ihren Facetten zerstört“, so Southgate.
Die neuen Bootsmotoren, die Autos, die Mopeds, das Benzin, die Flachbildschirme und die Computer, die die Staudammbetreiberin Norte Energia an die verschiedenen indigenen Dörfer entlang des Xingu-Flusses als Entschädigungen für den Bau von Belo Monte verteilt hat, haben Zwietracht gesät. „Vorher waren wir hier 18 indigene Dörfer, dann kamen die vielen Geschenke von Norte Energia, und es gab Neid und Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, sodass sich einige abgesondert haben“, sagt Gilliard Juruna, Kazike im kleinen Dorf Muratu. „Heute sind es 45 aldeias“, so Gilliard. Das alte Teile und Herrsche? „Ja“, sagt Gilliard, „das war die Strategie, sie wollten uns spalten, um unseren Widerstand zu schwächen.“
Thaís Santi spitzt den Vorwurf noch zu. „Meine Ermittlungen in dem Fall haben ergeben, dass die Auswirkungen des Staudammbaus nicht wie vorgeschrieben gemindert, sondern im Gegenteil sich verschärft haben. Die Untersuchungen aller Dokumente, Zeugen- und Betroffenenaussagen sowie selbst die Studien der Indigenenbehörde Funai ergeben das gleiche Bild: Bei Belo Monte handelt es sich um einen Ethnozid.“ Durchgeführt vom brasilianischen Staat und der Staudammbetreiberin Norte Energia. Über die Zuwendungen würden Abhängigkeiten geschaffen und die Sozial- und Alltagsstruktur in den aldeias zerstört. „Was hier vorgeht, ist ein kompletter Umbruch des Lebenswandels, der Ernährung, der Arbeitswelt der Indigenen“, so Santi, die in São Bernardo do Campo südlich von São Paulo geboren wurde, in Curitiba in Südbrasilien aufwuchs und seit vier Jahren als Bundesstaatsanwältin in Altamira arbeitet. Sie hat 2015 wegen Ethnozid Klage bei Gericht gegen Belo Monte eingereicht. „Während ein Genozid die Völker physisch ermordet, tötet ein Ethnozid sie in ihrem Geist“, erklärt sie. Eine ganze Kultur und Lebensweise stehe hier auf dem Spiel.
Bevor sie als Bundesstaatsanwältin anfing, arbeitete sie als Universitätsprofessorin für Philosophie. Ihre Abschlussarbeit hat sie über Hannah Arendts Totalitarismustheorie verfasst. Mit ihren StudentInnen, so erzählt sie, habe sie oft diskutiert über eine Welt, in der alles möglich ist, eine Welt am Rande der Legalität, eine Welt des Terrors. Und das, sagt Thaís Santi, habe sie am Xingu vorgefunden. „Belo Monte ist ein Ethnozid in einer Welt, in der alles möglich ist.“ Denn dieser Großstaudamm zeige die Extremseite eines als flexibel handhabbar verstandenen Rechts. Die Verletzung der Rechte der vom Staudammprojekt Belo Monte betroffenen Menschen sei ein Verfassungsbruch. Vor Gericht werde aber nicht mit dem Recht argumentiert, sondern mit der Kraft des Faktischen. „Die Staudammbetreiberin entgegneten den Klagen mit dem Argument, wie viel schon für den Bau ausgegeben worden sei und wie viele BauarbeiterInnen bei Einstellung des Projekts ihren Job verlieren würden. […] Dass der Bau von Belo Monte weiterging, das ist der Terror der Welt des Faktischen, in der alles möglich ist, in der das Recht keine Grenzen mehr setzt. Die Welt des ‚Alles ist möglich‘ – das ist Belo Monte“, so Thaís Santi.

// Christian Russau

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Staudämme am Rio Madeira reduzieren Fischbestände deutlich https://www.gegenstroemung.org/web/blog/staudaemme-am-rio-madeira-reduzieren-fischbestaende-deutlich/ Mon, 09 Mar 2020 12:57:47 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2026 Neue Universitätsstudie bestätigt Rückgang der Fischbestände um 40 Prozent

Das, wovor die Gegner*innen der Staudammbauten am Rio Madeira seit Jahren gewarnt haben, ist nun eingetreten und wissenschaftlich bestätigt worden. Der Bau der zwei Staudämme am Rio Madeira, Jirau und Santo Antonio, hat zu einem Rückgang der Fischbestände um 40 Prozent geführt. Dies geht aus einer neuen wissenschaftlichen Studie der Universidade Federal do Amazonas hervor, aus der brasilianische Medien berichten. Laut Rogério Fonseca von der Universidade Federal do Amazonas und Ko-Autor des in Umweltzeitschrift Revista Ambio zusammengefassten Studie habe der durch die Staudammbauten veränderte Wasserfluss und die durch die Wehrfunktion der Dämme behinderte Fischdurchgängigkeit zu einem massiven Rückgang der Fischpupulationen und mithin der Erträge der Fischerinnen und Fischer geführt. Allein im Munizip Humaitá beliefen sich die Ertragsverluste auf 342 Millionen Reais, umgerechnet derzeit 65 Millionen Euro. In einigen Fällen berichteten die Fischerinnen und Fischer, dass sich ihr Fangergebnis von 200 bis 300 Kilo auf rund 50 Kilo reduziert habe. Der Pressebericht gibt keine Erklärung über den Zeitrahmen dieser Fanggrößen an. Hinzu käme aber, so Rogério Fonseca, dass etliche der Fischerinnen und Fischer, die nun ihren Lebensunterhalt nicht mehr wie zuvor bestreiten könnten, sich illegalen Tätigkeiten, wie Holzfällen, Goldschürferei oder Landtitelbetrug zugewandt hätten, um ihr finanzielles Überleben zu sichern.


Jirau und Santo Antonio sind in den Medien zwei alte Bekannte. Jirau und Santo Antonio wurden 2011 berühmt-berüchtigt durch die Arbeiter*innenproteste von zigtausenden Arbeiter*innen, die sich gegen die schlechte Bezahlung, schlechte Unterbringung und Verpflegung zur Wehr setzten. Jahre später schlug vor allem der Arbeitsstreik und die Revolte juristische Kapriolen zwischen Brasilien und Großbritannien, weil die Versicherer und Baufirmen sich um die Frage stritten, wer die Kosten für die Arbeiter*innenrevolte zu tragen habe und welcher Gerichtsort für die Klärung dieser Fragen zuständig sei: Die eigentlich zuständigen Gerichte in Brasilien oder der in den Beschaffungsverträgen (illegal, da gegen die Brasilianische Verfassung verstoßend) niedergeschriebenen Gerichtsort London des privaten Schiedsgerichtes Arias. Auch hier, nur en passant, zur Erinnerung die Namen der beiden großen Versicherungsunternehmen aus Deutschland, die sich für die Staudämme am Rio Madeira an den Versicherungsdienstleistungen beteiligten und stets betonten, es handele sich dabei um „grüne“ Energie und die Umweltverträglichkeitsprüfungen würden genau studiert, es bestehe keine Gefahr für die Umwelt, und schon gar nicht für die Fischpopulationen: Am Versicherungspool von Santo Antonio beteiligte sich die Münchener Rück, und am Pool von Jirau die Allianz.

Zur Frage der durch Staudammbauten in Amazonien bedrohten Fischarten und den Rückgang der Fischerträge der unzähligen Kleinfischerinnen und -fischer gab es auch beim Bau des weltweit drittgrößten Staudamms, Belo Monte (auch hier wieder damals mit dabei: u.a. Allianz und Münchener Rück), viel Ärger, Streit und Ungereimtheiten. Nicht nur stellte sich nach Inbetriebnahme der ersten Turbinen heraus, dass die Turbinen große Bestände der Fische regelrecht zerhacken. Schon vorher gab es Probleme: „Wir lebten vom Fischfang, nun ist da nichts mehr“, berichteten die Flussanwohnerinnen und -anwohner bereits 2011, da sich im Fluss wegen der Bauarbeiten für den Kofferdamm die Fischbestände bereits verringerten. Im gleichen Jahr hatte ein Bundesgericht die Bauarbeiten wegen der Bedrohung der Zierfischerei vor Ort zwischenzeitig gestoppt. Der Fisch im Xingu ist nicht nur Nahrungsquelle für die lokalen Flussanwohnerinnen und -anwohner, das Fangen und der Export von Zierfischen nach Übersee schaffen Arbeit und Einkommen für Hunderte von Familien vor Ort und sicherte deren Überleben. Im Jahr 2012 hatten 800 Fischerinnen und -innen dann die Baustelle von Belo Monte mehrtägig besetzt, um auf den starken Rückgang der Fischbestände hinzuweisen.


All dies hatte die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) , die im Auftrag der Bauherrin erstellt wurde, so nicht vorausgesehen. Die bedrohten Schildkrötenarten fanden Eingang in die UVP, medienwirksam wurden Schildkröteneier umgesetzt, aber Fernsehkameras zeichneten auch das unsachgemäße Verbringen der Eier auf, in ungeschützten Kübeln gestapelt. Die UVP sah einige lokale Fischpopulationen temporär durch die Bauarbeiten beeinträchtigt, aber nicht vom Aussterben bedroht. Dabei hatte selbst die Umweltbehörde Ibama in einer Stellungnahme im November 2009 sich darüber beschwert, dass politischer Druck ausgeübt werde und dass unklar bliebe, was mit dem Fischbestand geschehen wird auf den 100 Kilometern Flusslauf des Xingu, die zu 80 Prozent trocken gelegt werden durch den Staudammbau. Nur: diese Stellungnahme wurde damals leider als nicht öffentlich einsehbar deklariert.


2015 meldete sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Fischpopulationen von 400 Spezies des Xingu-Flusses untersucht haben. Die Forscherinnen und Forscher der Bundesuniversität von Pará vermeldeten dabei, zumindest einer der bislang als endemisch nur in der Großen Flussschleife des Xingu geltenden Fische, pacu-capivara (Ossubtus xinguensis), sei durch Belo Monte nun doch nicht vom Aussterben bedroht. Pacu-capivara, ein kleiner Fisch, sei auch flussaufwärts in von Belo Monte unbeeinträchtigten Populationen gesichtet worden. Also keine Gefahr? Nur stellte sich heraus, dass die Bundesumweltbehörde Ibama bereits 2010 diesen Fisch explizit als durch den Staudammbau bedroht eingestuft hatte. Wer hatte denn nun recht? Der seit Jahrzehnten in Amazonien lebende und forschende Wissenschaftler Philip Fearnside wies explizit auf die Bedrohung der Fische hin. Denn der Staudammbau behindere massiv die Migrationsbewegungen der Fische – und die lokalen Auswirkungen in der Großen Flussschleife, die bei dann nur noch 20-Prozent-Wasserfluss nicht mehr dem lokalen Habitat der Fische entspräche, trügen auch ihren Teil zur Auslöschung der Populationen bei. Es reicht nicht zu sagen, es gab vor dem Staudammbau ober- wie unterhalb des Staudamms Fischpopulationen, denn es bedarf immer einer Mindestgröße einer Fischpopulation zum Überleben, genauso wie es eben bei Wanderfischen die Fischdurchgängigkeit braucht.

Hinzu kommen grundsätzlich Bedrohungen bei Veränderungen von Fließ- zu Staugewässern mit vermindertem Sauerstoffgehalt in tieferen Wasserschichten. Ähnliche Schlussfolgerungen hatte im Jahr 2009 ein 40-köpfiges Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Universitäten über Belo Monte gezogen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisierten die unvollständigen und mit heißer Nadel gestrickten Umweltstudien scharf, wiesen auf die Widersprüche der Studien hin und mahnten, dass die sozialen Folgen und Konsequenzen für die Umwelt durch das Staudammprojekt Belo Monte schwerwiegend sein würden. Laut ihrer Analyse sind durch Belo Monte schätzungsweise 100 Fischarten bedroht. Bislang sind 26 Fischarten bekannt, die nur am Xingu vorkommen. Würden alle im Amazonasgebiet geplanten Dämme gebaut werden, so die Wissenschaftlerinnen bereits im Jahre 2009, würde dies sogar die Vernichtung von bis zu 1.000 Fischarten bedeuten.


Über das tatsächliche Ausmaß des Artenverlustes gibt es allerdings bis heute kaum verlässliche Angaben, denn die Artenvielfalt vor Ort ist immer noch viel zu wenig erforscht, um abschätzen zu können, welche Verluste durch Großprojekte verursacht werden. Die offizielle Liste der in Brasilien bedrohten Fischarten zählt 133 auf, unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprachen einer Studie aus dem Jahr 2015 zufolge von 819 bedrohten Fischarten in Brasilien. Viele Studien, ebenso viele Meinungen. Wer hat denn nun recht? Schwer zu sagen. Ohne großangelegte, systematische Studien ist das nicht herauszufinden.


Die Journalistinnen und Journalisten des investigativen Portals A Pública wiesen ebenfalls bereits 2015 auf einen weiteren, eher unbeachteten Punkt hin: Die Umweltfolgenstudien zu Sozialem, zu Flora und Fauna bei Staudammbauten werden im Auftrag der Baufirmen von den Consultings erstellt, was schon hinreichend Anlass zu Kritik gibt. Aber mehr noch: Die Consultings partizipieren mitunter hinterher auch an den von ihnen zuvor geprüften Projekten. So hat Engevix Engenharia für den Staudamm Belo Monte die UVP erstellt – und Engevix Construções (von der gleichen Gruppe) hat hinterher zusammen mit Toyo Setal die elektromechanische Ingenieursdienstleistung für Belo Monte in Höhe von umgerechnet rund 300 Millionen Euro übernommen: siehe hierzu „Die unerträgliche Leichtigkeit der Umweltverträglichkeitsprüfungen„. Ein Schelm, wer Böses…

Auch das Beispiel des am Tapajós bis Mitte 2016 von der Regierung in Planung stark vorangetriebenen, dann aber im August 2016 wegen Ungereimtheiten bei der Umweltverträglichkeite gestoppten Staudammprojekts São Luiz do Tapajós verdeutlicht die Problemlage der durch Staudammbauten ausbleibenden oder gar aussterbenden Fischpopulationen und was das für die Fischerinnen und Fischer bedeutet: Obwohl sich die Verfasserinnen und Verfasser der UVP zum Staudammprojekt São Luiz do Tapajós und deren Kritikerinnen und Kritiker einig sind, dass diese Staudämme Auswirkungen und Folgen haben, scheiden sich die Geister an der Frage, wie massiv und folgenschwer diese zu bewerten sind. So ist es unbestritten, dass der Bau des São Luiz do Tapajós-Staudamms einen Verlust von Biodiversität vor Ort zeitigen würde. Die UVP selbst erfasste unter anderem 1.378 Pflanzenarten, 600 Vogelarten, 352 Fischarten, 109 Amphibienarten, 95 Säugetierarten sowie 75 Schlangenarten. Wo aber die UVP beispielsweise von Beeinträchtigungen der Schildkröten, Flussdelfin- und Fischpopulationen spricht, die aber durch entsprechende Maßnahmen abgemildert werden könnten, werfen Kritiker wie die Autorinnen und Autoren der 2016 veröffentlichten Greenpeace-Studie der UVP vor, die Daten nicht angemessen bewertet zu haben, da diese Populationen durch den Staudammbau gar in ihrem (oftmals endemisch, also einzigartigen nur dort vorkommenden) Bestand als Population bedroht sind.

Und diese Fragen ziehen dann weitere Konsequenzen – auch für Fragen des bedrohten Rechts auf Nahrung und Ernährungssouveränität der betroffenen Bevölkerung – nach sich, wie eben das Beispiel der Fischpopulationen anschaulich klarmacht.

Für die Umweltverträglichkeitsprüfung zum Staudamm São Luiz do Tapajós wurde eine Erhebung der wirtschaftlichen Aktivitäten der im betroffenen Einzugsgebiet des Staudamms lebenden Flussanwohnerinnen und -anwohner vorgenommen. Demnach lebt die Mehrzahl der Betroffenen in Subsistenz, als Acker- und Kleinviehwirtschaft betreibende Kleinbäuerinnen und -bauern, deren hauptsächliche wirtschaftliche Aktivität in der Herstellung von Maniokmehl aus selbst angepflanzten Maniokwurzeln sowie aus Fischfang besteht. Dies liegt daran, dass der von ihnen produzierte Überschuss an Maniokmehl und aus dem Fischfang an die lokal arbeitenden, aber dort nicht heimischen Goldschürfer verkauft wird. So kommt es, dass eigentlich in Subsistenz lebende Kleinbäuerinnen und -bauern in Erhebungen auch als dem Dienstleistungssektor zugezählt werden, obwohl dies nur einen Randbereich ihrer beruflichen Aktivität darstellt, die eben vorwiegend von Subsistenzwirtschaft geprägt ist.

55% der im Einzugsgebiet des São Luiz do Tapajós-Staudamms am Fluss lebenden Menschen praktizieren Fischfang, für 31% von diesen ist dies ihre hauptsächliche wirtschaftliche Aktivität, so die UVP der Staudammplaner (Eletrobras/CNEC/Worley Parsons: RIMA. Relatório de Impacto Ambiental AHE Sao Luiz do Tapajós, Juli 2014, S. 67.). Dabei überwiegt die Nutzung des Fisches als Subsistenz, nur ein geringer Teil wird in den Kleinstädten Jacareacanga (80 t/Jahr) und Itaituba (400 t/Jahr) auf den wenigen vorhandenen Fischmärkten umgeschlagen (Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.483.). Von den in der Umweltverträglichkeitsprüfung der Staudammplaner festgestellten 352 im Umfeld des geplanten São Luiz do Tapajós-Staudamm heimischen Fischarten (ältere Studien zum Tapajós zählten hingegen 494 Fischarten, siehe Ricardo Scoles: Caracterização ambiental da bacia do Tapajós, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.35.) sind zwar nur 42% Wanderfische (siehe Eletrobras/CNEC/Worley Parsons: RIMA. Relatório de Impacto Ambiental AHE Sao Luiz do Tapajós, Juli 2014, S. 60.), aber die auf den Märkten von Jacareacanga und Itaituba feilgebotenen, lokal gefangenen Fische setzen sich Erhebungen zufolge wegen ihres massenhaften Vorkommens im Fluss zu 50 bis 90% aus saisonalen Wanderfischen zusammen, die zum Laichen andere Habitate aufsuchen (siehe Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.479.). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Studien warnen ausdrücklich, dass der Zug dieser Wanderfische durch den Staudammbau abgeschnitten werde und dies so das Aussterben der Populationen in den durch Staudammbau von einander isolierten Gebieten zufolge haben könnte (siehe Ronaldo Barthem, Efrem Ferreira und Michael Goulding: As migrações do jaraqui e do tambaqui no rio Tapajós e suas relações com as usinas hidrelétricas, in: Ocekadi: Hidrelétricas, Conflitos Socioambientais e Resistência na Bacia do Tapajós / Daniela Fernandes Alarcon, Brent Millikan und Mauricio Torres [Hrsg.], Brasília 2016, S.490.).

Dies verdeutlicht, worum es letztlich geht: Um das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität.

// christian russau

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Im Fadenkreuz von Bolsonaro https://www.gegenstroemung.org/web/blog/im-fadenkreuz-von-bolsonaro/ Fri, 28 Feb 2020 15:29:29 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2023 Bolsonaro-Regierung droht mit dem Ausstieg aus der ILO-Konvention 169, um industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkraftnutzung in indigenen Territorien Brasiliens durchzusetzen.

Von Camila de Abreu und Christian Russau

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag festgehalten, dass es in dieser Legislaturperiode zu einer Unterzeichnung und Ratifizierung seitens Deutschlands der ILO-Konvention 169 zum Schutze der Rechte Indigener geben würde. Dies wäre ein starkes Zeichen, an andere Länder, wie beispielsweise Brasilien, das einer von Deutschlands sogenannten strategischen Partnern ist, deren aktueller Präsident, der rechtsextreme Hauptmann a.D., Jair Bolsonaro, unverhohlen damit droht, dass Brasilien aus der Konvention 169 austrete.

Weitere Infos zur Dringlichkeit, dass Deutschland die ILO-Konvention 169 unterzeichnen und ratifizieren muss, finden sich auf der Webseite: https://www.ilo169.de/

Nicht einen Zentimeter wird mehr als indigenes Reservat demarkiert werden“

„Nicht einen Zentimeter wird mehr als indigenes Reservat demarkiert werden“, sollte er zum Präsidenten Brasiliens gewählt werden, tönte der damalige Abgeordnete und rechtsextreme Hauptmann a.D., Jair Bolsonaro, im April 2017. „2019 werden wir das indigene Reservat Raposa Serra do Sol zerlegen. Wir werden allen Ranchern Waffen geben“, kündigte er bereits 2016 an. Drei Jahre später wurde er Präsident von Südamerikas größtem Staat. Entsprechend fallen nun seine Angriffe auf indigene Rechte aus. Die Indigenenbehörde FUNAI wird gezielt finanziell ausgedünnt und institutionell geschwächt, die Entscheidung über Demarkationen indigenen Landes entzog er als eine seiner ersten Amtshandlungen bereits im Januar 2019 per Präsidialdekret der FUNAI und übertrug es dem von eingefleischten ruralistas („Großfarmer*innen)“ dominierten Landwirtschaftsministerium, eine Entscheidung, der erst der brasilianische Nationalkongress eine Absage erteilte, indem er die Entscheidungskompetenz wieder der FUNAI zuteilte, woraufhin Bolsonaro sein Dekret im Juni noch einmal überarbeitete und so die Kongressentscheidung umgehen wollte, bevor letztlich im Juni 2019 der Oberste Gerichtshof STF endgültig entschied, dass die Frage der Demarkationen bei der FUNAI, angegliedert dem Justizministerium, zu verbleiben habe. Augenscheinlich eine Niederlage für Bolsonaro, die er aber in der Praxis durch Nichtstun wieder wettmachte – sehr zum Schaden indigener Rechte.1

Denn: Die von der Verfassung von 1988 vorgeschriebenen Ausweisungen der indigenen Gebiete als rechtlich geschützte Territorien („Terra Indígena“) sind unter der Bolsonaro-Regierung im Gesamtjahr 2019 entsprechend auf Null zurückgegangen.

Bolsonaro will indigene Territorien für industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben

Doch nicht nur die gezielte Verschleppung der anstehenden Demarkationsprozesse indigener Territorien ist Bolsonaro ein Anliegen. Brasiliens seit Januar 2019 amtierender Präsident will obendrein die bereits rechtlich sanktionierten und somit eigentlich geschützten indigenen Territorien für wirtschaftliche Ausbeutung mittels Landwirtschaft, Bergbau und Wasserkrafterzeugung freigeben. Dazu hat er im Februar 2020 einen (der Presse zunächst nicht freigegebenen) Gesetzesvorschlag dem Nationalkongress in Brasília zur Abstimmung überreicht.

Der Gesetzentwurf sieht laut Mitteilung des Präsidialamts vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Ölexploration: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei zwischen 0,5 bis zu 1 Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden die Hälfte des üblicherweise entrichteten Wertes finanzieller Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gegeben.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen des Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens APIB, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Konsultation oder Zustimmung bei FPIC? Auch in Brasilien das zentrale Streitthema

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der von Bolsonaro eingereichte Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölexploration geht es nur um Konsultationen – ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt bei Bolsonaros aktuellem Gesetzesentwurf nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Unklar ist, wie die Entscheidungen darüber ablaufen sollen, wenn es in den indigenen Völkern unterschiedliche Ansichten und Absichten darüber gibt. Der nun vorgeschlagene Gesetzestext sieht laut Medienberichten vor, dass die Entscheidungen über Aktivitäten in den Gemeinden von einem Beirat getroffen werden, die von den betroffenen indigenen Völkern gebildet werden und deren Vertreter*innen von den Gemeinschaften „gemäß ihrer normalen Art und Weise“, Anführer*innen und Delegierte zu wählen, ernannt werden. Angesichts unterschiedlicher Interessenslagen auch bei indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.

Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Zuvor hatte Bolsonaro Indigene mit „Tieren in einem Zoo“ verglichen, was zurecht heftigste Proteste der indigenen Völker Brasiliens hervorrief: „Die Rede von Bolsonaro und seinem Team über indigene Völker ist rückwärtsgewandt und behandelt uns respektlos, unsere Geschichte, unsere Abstammung, und mißachtet unser politisches-bürgerliches Handeln in Bezug auf den brasilianischen Staat. Der Präsident verglich uns mit Tieren im Zoo, die in einem Käfig gefangen seien, wenn er es mit dem Leben in unseren traditionellen Territorien vergleicht. Er macht absurde Aussagen über unsere Lebensweise und über unsere Wünsche als brasilianische Bürgerinnen. Ja, wir sind Brasilianerinnen! Wir sind Indigene! Wir wissen, was wir wollen, und wir verlangen das Recht, vom Staat zur Ausarbeitung und Umsetzung öffentlicher Richtlinien konsultiert zu werden!“2

Die ILO-Konvention 169 wurde von Brasilien 2002 ratifiziert3 und durch ein Präsidialdekret4 in nationales Recht umgesetzt. Laut Lesart des Obersten Gerichtshofs Brasiliens STF stehen internationale, von Brasilien unterschriebene Rechtsverträge unterhalb der Rechtsgültigkeit der Verfassung Brasiliens, aber oberhalb jedweden Gesetzes. Dies würde im Falle der Gesetzesinitiative von Jair Bolsonaro zur wirtschaftlichen Inwertsetzung der indigenen Territorien bedeuten, dass das in Art. 6 und 7 der ILO-Konvention 169 festgelegte Recht auf freie, vorherige und informierte Konsultation dem Präsidenten Jair Bolsonaro einen Strich durch die Rechnung machen könnte. In Artikel 6, Satz 2 der ILO-Konvention 169 heißt es: „Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“ Wenn also ein künftig vom Brasilianischen Nationalkongress auf Betreiben Bolsonaros beschlossenes Gesetz zur Inwertsetzung indigener Territorien durch industrielle Landwirtschaft, Bergbau und Staudämme in Konflikt mit der ILO-Konvention 169 zu kommen droht, wäre es für die Bolsonaros und Konsorten wichtig, dass Brasilien vorher aus der Konvention austrete.

Dreh- und Angelpunkt im Streit zwischen den wirtschaftlichen Inwertsetzungsinteressen einer Bolsonaro-Regierung und den Schutzinteressen der indigenen Völker Brasiliens im Kampf um ihre Territorien ist die Frage der in Artikel 6 erwähnten zu erreichenden „Zustimmung“ der betroffenen Indigenen und wie die „Konsultation“ im Einzelnen auszusehen habe. Und genau in diesem Spannungsbogen zwischen „Konsultation“ und „Zustimmung“ bewegt sich seit Jahren auch die Auseinandersetzung um die Auslegung der ILO-Konvention 169 in Brasilien.

Projektbetreiber und die Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur in Brasília meinen meist, dass es reicht, Konsultationen in Form von abzuhaltenden Anhörungen durchzuführen. So ist es bei allen bisherigen Großinfrastrukturprojekten wie Überlandstraßen, Wasserkraftwerken und Staudämmen sowie Bergbaugenehmigungen geschehen. Es wurden Anhörungen durchgeführt, die oftmals nicht den Charakter einer freien, vorherigen und informierten Befragung hatten, die nicht „in gutem Glauben“ abliefen und die schon gar nicht eine Abstimmung, womöglich gar mit einem Vetorecht der betroffenen Indigenen vorsahen.5

Indigene Völker wie auch die zuständigen UN-Gremien und die ILO jedoch stehen klar auf dem Standpunkt, dass die ILO-Konvention die freie, vorherige und informierte Zustimmung (Free, Prior and Informed Consent, FPIC) vorschreibt, im Einklang mit der UN-Erklärung der Rechte der Indigenen Völker (UNDRIP), die ebenfalls in mehreren Fällen FPIC verbindlich vorschreibt, insbesondere, wenn Territorien und Lebensgrundlagen indigener Völker betroffen sind oder ein Projekt ihre Umsiedlung vorsieht. Dabei setzt freie und informierte Zustimmung voraus, dass zuvor echte Konsultationen in gutem Glauben („good faith consultations“) stattgefunden haben. Nach Meinung von Indigenen, internationalen Rechtsexpert*innen und Menschenrechtsorganisationen sind Konsultation, Partizipation und Zustimmung alle drei gleichermaßen Grundbedingung des Rechtsschutzes für indigene Völker. Und wenn die „Zustimmung“ erforderlich ist, muss dies im Umkehrschluss heißen, dass ein Projekt nicht durchgeführt werden kann, wenn die betroffenen Gemeinschaften ihre Zustimmung nicht geben. Brasiliens Rechtssprechung hat dies aber bislang noch nicht entsprechend anerkannt.

FPIC in Brasiliens Rechtspraxis der vergangenen Jahre: Zwei eklatante Beispiele

Es war nicht alles gut, allein dadurch dass Brasilien die ILO-Konvention 169 unterzeichnet und ratifiziert hat. Denn bei der Rechtsauslegung des Wesensgehaltres von Gesetzen und Normen geht es immer auch um den Widerstreit verschiedener Interessen – und wie mächtig jemandes Interessen im Lande sind.

Eklatantestes Beispiel dafür waren die Anhörungen, die in der Xingu-Region anlässlich des Baus des Staudamms Belo Monte zur Zeit der Regierung Dilma Rousseffs von der brasilianischen Arbeiterpartei PT durchgeführt wurden. Die Informationen über die anberaumten Treffen in den Kreisorten erreichten nicht alle Betroffenen, die obendrein oft keine finanziellen Möglichkeiten zur Teilnahme hatten; Anwesenheit von Militärpolizisten sowie eine technische Sprache von Fachleuten, die auf die Bevölkerung einschüchternd wirkten sowie eine begrenzte Zahl von Treffen, die eher den Charakter einer Aussprache hatten; eine Abstimmung und somit die Möglichkeit eines Vetos war nicht vorgesehen. Hinzu kam das perfide Argument, dass indigene Völker vom Bau von Belo Monte ja nicht im Sinne der Brasilianischen Verfassung betroffen sein würden, da die Verfassung von 1988 Indigene nur dann als von Wasserkraftprojekten „Betroffene“ ansieht, wenn deren Ländereien geflutet werden. Im Fall Belo Monte gehe es aber „nur“ um eine Reduzierung der Wassermenge des Xingu-Flusses in der Volta Grande („Große Flussschleife“) um 80 Prozent.6

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (Inter-American Commission on Human Rights – IACHR) als Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington, D.C, hatte im April 2011 die brasilianische Regierung offiziell aufgefordert, den Bau des Belo Monte Damm-Komplexes zu stoppen, solange die erforderlichen Konsultationen indigener Völker nicht erfolgt seien. Der Staudammbau würde negative Auswirkungen auf indigene und andere traditionelle Gemeinschaften des Xingu-Beckens haben, besonders auf diejenigen, die an dem hundert Kilometer langen Abschnitt der Volta Grande (Große Flussschleife) leben. Die IACHR-Empfehlungen stimmten mit den Klagen seitens des Ministério Público (in etwa: Bundesstaatsanwaltschaft) von Pará darin überein, dass sie die brasilianische Regierung auffordern, Anhörungen durchzuführen, so wie es die Verfassung vorsieht, und die Zustimmung zum Projekt zu erreichen. Die Rousseff-Regierung war empört über die Empfehlungen, wies diese als absurd7 zurück, stellte zwischenzeitlich die Geldzahlungen an die Organisation Amerikanischer Staaten ein, berief seinen entsandten Botschafter zurück und drohte unverhohlen mir einem potenziellen Austritt aus der OAS.8 Letztlich geschah: Nichts. Belo Monte wurde fertiggestellt, erst vor wenigen Monaten wurde die letzte Turbine in Gang gesetzt.

Auch beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss an der Grenze von Pará zu Mato Grosso entschied zunächst ein Gericht einen Betriebsstopp, da die betroffenen Indigenen nicht angemessen gehört wurden. Anfang Dezember 2015 wurde in einem von der Bundesstaatsanwaltschaft angestrengten Prozess in zweiter Instanz entschieden, dass das seit Ende 2015 in Betrieb befindliche Wasserkraftwerk Teles Pires die Rechte der vom Staudamm betroffenen Indigenen Kayabi, Munduruku und Apiaká verletzt. Das Gericht der 5ª Turma do Tribunal Regional Federal da 1ª Região (TRF1) ordnete an, dass die Indigenen gemäß der freien, vorherigen und informierten Zustimmung (Free Prior and Informed Consent, FPIC) nach der Definition der ILO Konvention Nr.169 befragt und um Zustimmung gebeten werden müssten. Eine solche Befragung und das Einholen der erforderlichen Zustimmung sei weder durch die brasilianische Regierung noch durch den Betreiber des Wasserkraftwerks eingeholt worden, so das Gericht in zweiter Instanz, nachdem zuvor Brasiliens Bundesregierung und die Staudamm-Betreiberin gegen die gleichausgefallene, erstinstanzliche Verurteilung Widerspruch bei Gericht eingelegt hatten. Das Gericht erklärte zudem die durch die Umweltbehörde Ibama erteilte Baugenehmigung für rechtswidrig und folgte darin der Staatsanwältin Eliana Torelly, die in ihrem Plädoyer in der Gerichtsverhandlung der zweiten Instanz erklärt hatte, dass das Wasserkraftwerk Teles Pires „die Verringerung der Fischarten, die Verseuchung des Flusswassers, Abholzung [von Regenwald zur Folge gehabt] und die natürlichen Ressourcen in Mitleidenschaft gezogen“ habe. Das Gericht führte in seiner Urteilsbegründung zudem an, dass durch den Staudammbau und die Flutung von 150 Quadratkilometer Landschaft die Stromschnellen Sete Quedas zerstört wurden. Diese Stromschnellen von Sete Quedas am Fluss Teles Pires9 aber, so das Gericht, seien für die indigenen Munduruku, die Kayabi und Apiaká heilige Orte. Dort lagerten bis zur Flutung für den Bau des Staudamms Teles Pires im Jahr 2013 die heiligen Urnen der Ahnen der Munduruku, Kayabi und Apiaká.10 Nur zwölf der Urnen wurden gerrettet und im Museum der Kleinstadt Alta Florsta gelagert. Wegen der Unantastbarkeit heiliger, sakraler Stätten sei eine Befragung und Zustimmung nach den Regeln der ILO-Konvention 169 zur freien, vorherigen und informierten Zuistimmung (FPIC) unablässlich, so das Gericht in seiner Entscheidung vom Dezember 2015.

Das Urteil zum Betriebsstopp war zwar ab Dezember 2015 rechtskräftig, gleichwohl konnte der Betriebsstopp nie vollstreckt werden. Dies hängt mit der sogenannten „suspensão de segurança“ zusammen. Diese steht für den Verweis auf vermeintlich höherwertige, nationale Interessen. Die „suspensão de segurança“ basiert auf einem Gesetz noch aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Das Gesetz aus dem Jahre 1964 definiert, dass das Außerkraftsetzen eigentlich verfassungsrechtlich vorgesehener Prinzipien mit dem Verweis auf höherwertige nationale Interessen durch die Regierung durchgesetzt werden kann. Dazu muss nur ein Mitglied des Obersten Gerichtshof eine diesbezügliche Eingabe machen, so dass der Bau oder laufende Betrieb des betreffenden Projekts vorerst durch keine Gerichtsurteile behindert werden darf. Dennoch muss auch diese Rechtseingabe seitens des Obersten Gerichtshofs irgendwann rechtskräftig und abschließend entschieden werden. Doch wann, das regelt das Gesetz nicht. So wies der Bundesstaatsanwalt Felício Pontes Jr. in seinem Plädoyer im Dezember 2015 vor Gericht darauf hin, dass „wir in allen Instanzen gewonnen haben, dass der Staudamm nicht ohne die vorherige Konsultation der Indigenen gebaut werden darf. Aber das Bauvorhaben wurde dennoch zum Abschluss gebracht. Die Indigenen leiden unter Krankheiten, die sie zuvor nicht hatten. Und das alles infolge einer politischen Entscheidung im Sinne der suspensão de segurança, einem Rechtskonstrukt aus der Militärdiktatur, einem Rechtskonstrukt, das es in einem demokratischen Land nicht geben dürfte.“

Die Indigenen Munduruku, Kayabi und Apiaká protestieren weiter gegen die Staudammbauten am Teles Pires-Fluss, wo ihre heiligen Stätten durch die Wasserkraftwerke zerstört wurden. Es gab mehrere Baustellenbesetzungen des Wasserkraftwerks São Manoel, das in Nähe des Wasserkraftwerks Teles Pires liegt.11 Im Dezember 2019 besetzten 70 Munduruku das Museum der Kleinstadt Alta Floresta und entnahmen die dort lagernden zwölf heiligen Urnen ihrer Vorfahren, die letzten erhaltenen Urnen aus dem überschwemmten heiligen Ort der Stromschnellen von Sete Quedas und verbrachten die Urnen in ihr Territorium.12

Den Bau dieses umstrittenen Staudamms Teles Pires hatte übrigens die deutsche Münchener Rückversicherungsgesellschaft gegen Schäden rückversichert. Eine Vertreterin der brasilianischen Widerstandsbewegung Movimento Xingu Vivo para Sempre war deshalb 2015 eigens zur Hauptversammlung der Münchener Rück nach München gereist, um die Konzernvorstände auf die Verstrickung der Firma beim Staudamm Teles Pires am gleichnamigen Fluss anzusprechen. Ihr war es vorbehalten, die entscheidende Frage zu stellen: „Am Teles Pires haben die Baufirmen einen riesigen Wasserfall gesprengt: Dieser Wasserfall heißt Sete Quedas. Für die Indigenen Kayabi, Apyaka und Munduruku ist Sete Quedas ihr heiligster Ort. Wie würden Sie reagieren, wenn eine Baufirma daherkommt und die Münchener Frauenkirche mit Bulldozern einreißt?“13 Der damalige Vorstandsvorsitzende Nikolaus von Bomhard hatte darauf keine Antwort. Manchmal spricht Sprachlosigkeit dann doch Bände.

Wehrhafte indigene Gemeinden vor Ort: Selbst-Erarbeitung eigener Konsultationsprotokolle

Um dem rechtlich noch ungeklärten Graubereich einer ILO-Konvention-169-konformen Rechtssprechung Nachdruck zu verleihen, haben in Brasilien ab dem Jahre 2014 mehr und mehr indigene Völker eigenständig erarbeitete Verfahrensprotokolle erstellt, um dergestalt ein rechtsgültiges Dokument in der Hand zu haben, mittels dessen sie fordern, dass ihre Konsultation nach ihren Regeln ablaufen soll. Wichtige Elemente sind dabei oft die indigene Sprache, der Ort (in den Gemeinden selbst), die Zeit (wichtig wegen jahreszeitlichen Arbeiten wie Ernte oder religiösen Riten), die Zeitdauer (jede/r kann solange reden, wie er/sie will), die Entscheidung, wer überhaupt von den Nicht-Indigenen teilnehmen darf, die Notwendigkeit der Rückkoppelung mit dem Gemeinden, so nicht alle anreisen können sowie natürlich die Frage nach dem Veto-Recht.

Mittlerweile gibt es an ein Dutzend solcher niedergelegter Verfahrensprotokolle in Brasilien, sowohl von indigenen Gemeinden und Völkern, als auch von anderen traditionellen Völkern und Gemeinschaften (Quilombolas, Ribeirinhos, etc).14 Am Ende dieses Textes findet sich beispielhaft das von den indigenen Munduruku erarbeitete Verfahrensprotokoll zur Konsultation in deutschsprachiger Übersetzung.

Die Bedeutung dieser autonom von den indigenen Gemeinschaften und Völkern erstellten Verfahrensprotokolle zur Konsultation sollte nicht unterschätzt werden. 2017 hatte erstmals ein Gericht eine Baugenehmigung für ein Bergbauunternehmen in Brasilien auf Basis des Rechtsarguments entzogen, dass das von der betroffenen indigenen Gemeinschaft erstellte Dokument zum Protokollverfahren der Konsultation von der Firma nicht befolgt worden war.15 Als das bekannt wurde, begannen sich mehr und mehr indigene und andere traditionelle Völker und Gemeinschaften der Erstellung solcher Protokolle zu widmen, ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.16

Bolsonaros Androhung der Kündigung der ILO-Konvention 169

Die Bolsonaro-Regierung jedenfalls gibt derzeit deutliche Anzeichen, dass sie die ILO-Konvention 169 – und auf deren Basis die eigenständige Erstellung von niedergelegten Protokollverfahren zur Konsultation indigener und anderen traditioneller Völker und Gemeinschaften – als Gefahr für ihre Anti-Indigenen-Rechte-Strategie ansieht und von daher einen Ausstieg Brasiliens aus der ILO-Konvention 169 androht. Als erste schickte die Bolsonaro-Regierung im März 2019 Brasiliens Botschafterin bei der UNO in Genf, Maria Nazareth Farani Azevêdo, vor, die öffentlich auf die Möglichkeit verwies, dass Brasilien die ILO-Konvention 169 verlassen könnte.17 Dann folgte im Oktober 2019 das direkt dem Präsidenten Brasiliens unterstellte Sicherheitskabinett GSI, das laut einem Pressebericht vom 4. Oktober 2019 die Bundesanwaltschaft AGU aufforderte, ein wegweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs STF aus dem Jahre 2006, das die Rechtsgültigkeit der von Brasilien 2002 ratifizierten ILO-Konvention 169 auch auf Quilombolas (Nachkommen der Sklaverei entflohener Schwarzer) bestätigte, auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Laut dem Pressebericht18 erinnert das GSI-Dokument auch an den nächstmöglichen Kündigungszeitraum, sollte Brasilien sich entscheiden, aus der ILO-Konvention 169 auszutreten: Dies könne, so das GSI-Dokument, zwischen dem 5.9.2021 und 5.9.2022 geschehen. Als Begründung für einen möglichen Austritt Brasiliens erwähnt das GSI-Dokument die „Auswirkungen der ILO-Konvention 169 auf die Entwicklung des Landes“. Das GSI-Dokument schlägt die Einrichtung einer Arbeitsgruppe vor, die einen neuen Vorschlag für ein Präsidaldekret erarbeiten solle, das den Modus Operandi der „vorherigen Konsultation indigener Völker und Stämme“ neu regeln soll. Auch hier liefert das mittlerweile mehrheitlich von Militärs dominierte GSI gleich eine Begründung: die bisherige Anwendung der ILO 169 beeinträchtige „Projekte mit nationalem Interesse“.

Diese Ankündigung sollten bei allen die Alarmglocken schrillen lassen.

Anhang:

Wie die Munduruku das Protokollverfahren zur Konsultation wollen

14.05.2017 | Übersetzung von Christian Russau

Die indigenen Munduruku vom Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós haben ein Grundlagendokument erstellt, in dem sie erklären, wie eine rechtlich korrekte Konsultation der Munduruku im Falle von Großprojekten wie Staudämmen auszusehen habe.

Quelle: Movimento Munduruku Ipereg Ayu, Associações: Da’uk, Pusuru, Wixaximã, Kerepo und Pahyhyp: Protocolo de Consulta Munduruku, Jan. 2016, unter: http://fase.org.br/pt/acervo/biblioteca/protocolo-de-consulta-munduruku/

Im Entstehensprozess des Dokuments, das in den indigenen Dörfern mit allen Munduruku 2015 gemeinsam debattiert und im Konsens verabschiedet wurde, war den Munduruku immer wichtig zu betonen, dass sie für sich selbst selbst reden und dass niemand Einzelnes ohne Weiteres für die Gruppe sprechen darf. Daher hier die Erklärung der Munduruku zum Protokollverfahren der Konsultation im Wortlaut:

Wir, das Volk der Munduruku,

wir wollen hören, was die Regierung uns zu sagen hat. Aber wir wollen keine Ausreden. Damit das Volk der Munduruku entscheiden kann, müssen wir wissen, was tatsächlich geschehen wird. Und die Regierung muss uns anhören. Zuallererst fordern wir die Demarkation des Indigenen Territoriums Sawré Muybu. Auf gar keinen Fall akzeptieren wir eine Umsiedlung. Wir fordern von der Regierung zudem, dass unsere isoliert in unserem Land lebenden Verwandten geschützt werden und dass das Recht auf Konsultation der anderen Völker, wie der Apiaká und der Kayabi, die auch durch diese Projekte bedroht sind, garantiert werde. Außerdem fordern wir, dass den durch die Staudämme im Tapajós betroffenen Gemeinden der Flussanwohner von Montanha-Mangabal, Pimental und São Luiz ihr Recht auf Konsultation angemessen und ihrer besonderen Realität angepasst gewahrt werde. Genauso wie wir haben die Flussanwohner das Recht auf eigene Konsultation.

Wer soll konsultiert werden?

Die Munduruku aller Dörfer – des Oberen, Mittleren und Unteren Tapajós – müssen konsultiert werden, auch diejenigen aus indigenen Gebieten, die noch nicht demarkiert wurden.

Soll die Regierung nicht denken, wir seien gespalten:

Es gibt nur ein Volk der Munduruku“

Es sollen konsultiert werden:

  • die weisen Alten, die pajés, die Geschichtenerzähler, die Kenner traditioneller Medizin, die Kenner der Wurzeln und der Blätter, diejenigen, die die heiligen Orte kennen.
  • die Kaziken und Anführer, die Krieger und Kriegerinnen. Die Kaziken sind miteinander vernetzt und teilen die Informationen mit allen Dörfern. Es sind sie, die alle zusammenrufen, damit wir debattieren, was wir machen werden. Die Krieger und Kriegerinnen unterstützen den Kaziken, gehen mit ihm und schützen unser Territorium.
  • die Anführer, die Lehrer sind, und die, die für die Gesundheit zuständig sind, die also, die mit der ganzen Gemeinschaft arbeiten.
  • die Frauen, damit sie ihre Erfahrungen und Informationen weitergeben. Es gibt Frauen, die sind pajés, Hebammen und Kunsthandwerkerinnen. Sie bearbeiten das Feld, geben Ideen und Rat, bereiten das Essen zu, stellen medizinische Produkte her und verfügen über ein großes und breites traditionelles Wissen.
  • die Universitätsstudenten, die Erzieher der Munduruku, die Ibaorebu-Studenten, die Jugendlichen und Kinder müssen auch konsultiert werden, weil sie die zukünftige Generation sind. Viele Jugendliche haben Zugang zu Kommunikationsmedien, lesen Zeitungen, gehen ins Internet, sprechen portugiesisch und kennen unsere Realität und haben aktiven Anteil an dem Kampf unseres Volkes.
  • unsere Organisationen (Conselho Indígena Munduruku Pusuru Kat Alto Tapajós – Cimpukat, Da’uk, Ipereg Ayu, Kerepo, Pahyhy, Pusuru und Wixaximã) müssen auch konsultiert werden, aber sie dürfen niemals alleine konsultiert werden. Die Stadtverordneten Munduruku sprechen nicht für unser Volk. Die Entscheidungen des Volks der Munduruku werden kollektiv getroffen.

Wie soll der Prozess der Konsultation ablaufen?

  • Die Regierung darf uns nicht erst dann konsultieren, wenn alle Entscheidungen schon getroffen sind. Die Konsultation muss vor allem anderen stattfinden. Alle Treffen müssen in unserem Territorium stattfinden – in dem Dorf, das wir auswählen –, und nicht in der Stadt, nicht einmal in Jacareacanga oder Itaituba.
  • Die Treffen dürfen nicht zu Zeiten stattfinden, die die Aktivitäten unserer Gemeinschaft stören (also zum Beispiel nicht während der Feldarbeits-Saison des Feldfurchens oder des Pflanzens; nicht während der Zeit des Kastanien-Sammelns, nicht während der Zeit des Mehls, nicht während unserer Festtage; nicht am Tag des Indigenen). Wenn die Regierung in unser Dorf zur Konsultation kommt, dürfen sie nicht nur kurz einfliegen und am nächsten Tag wieder weggehen. Sie müssen in Ruhe mit uns Zeit verbringen.
  • Die Treffen müssen in der Sprache Munduruku abgehalten werden und wir entscheiden, wer übersetzen wird. In diesen Treffen muss unser Wissen genauso anerkannt werden wie dies der pariwat (nicht-indigener). Weil es sind wir, die wir die Flüsse kennen, den Wald, die Fische und das Land. Es sind wir, die wir die Treffen koordinieren, nicht die Regierung.
  • An den Treffen sollen die Partner unseres Volkes teilnehmen: Die Bundesstaatsanwaltschaft, die von uns ausgewählten Partnerorganisationen sowie Fachleute unseres Vertrauens, die wir auswählen. Die Unkosten unserer Anwesenheit und die unserer Partner während aller Treffen gehen auf Kosten der Regierung.
  • Damit die Konsultation wirklich frei sein wird, werden wir auf den Treffen unter keinen Umständen bewaffnete pariwat (Militärpolizei, Bundespolizei, Bundesstraßenpolizei, Heer, Nationaler Sicherheitskräfte, Brasilianischen Geheimdienst oder jedwede anderen staatlichen oder privaten Sicherheitskräfte) akzeptieren.
  • Wenn die Regierung mit Kameras ankommt, darf sie ohne unsere Autorisierung keine Aufnahmen machen. Zu unserer Sicherheit sollen die Treffen gefilmt werden und die Regierung muss uns die vollständigen Kopien der Aufnahmen übergeben.

Die von uns bisher angesprochenen Treffen teilen sich in folgende auf:

  • Treffen zum Beschluss über den Plan für die Konsultation: Die Regierung muss sich mit dem Volk der Munduruku treffen, damit wir eine Übereinkunft treffen, welchen Plan wir für die Konsultation festlegen. Dieser Plan für die Konsultation muss dieses Dokument hier in Gänze respektieren, da es erklärt, wie wir uns organisieren und wie wir unsere Entscheidungen treffen.
  • Informationstreffen: Die Regierung muss sich mit unserem Volk treffen, in jedem Dorf einzeln, um uns über ihre Vorhaben zu informieren und unsere Zweifel und Nachfragen zu beantworten. Neben uns sollen die Partner unseres Volkes an diesem Treffen jeweils teilnehmen.
  • Interne Treffen: Nach diesen Informationstreffen brauchen wir Zeit zum Diskutieren unter uns über die Vorschläge der Regierung. Wir werden Zeit brauchen, um den Vorschlag den Verwandten, die nicht an den Informationstreffen teilnehmen konnten, zu erläutern. Des Weiteren wollen wir uns mit den Flussanwohnern (beispielsweise mit denen von Montanha-Mangabal) treffen und beratschlagen. Wir werden unsere Partner zu unseren internen Treffen hinzuladen. Aber die Regierung darf dabei nicht anwesend sein. Sollten Unklarheiten oder neue Informationen aufkommen, dann muss die Regierung weitere Informationstreffen mit uns und unseren Partnern abhalten. Danach dann würden wir weitere Treffen mit unseren Partner, ohne die Regierung, machen, um die Unklarheiten zu klären und um zu debattieren. Egal wie viele Treffen dafür notwendig wären, damit das Volk der Munduruku sich vollständig informiert
  • Verhandlungstreffen: Wenn wir hinreichende Informationen haben und mit unserem ganzen Volk debattiert haben, wenn wir also eine Antwort an die Regierung haben, dann muss die Regierung sich mit uns, in unserem Territorium treffen. An diesem Treffen sollen auch unsere Partner teilnehmen. Die Regierung muss zuhören und auf unseren Vorschlag antworten, selbst wenn unser Vorschlag anders als der von der Regierung sei. Und wir mahnen: Wir akzeptieren nicht, dass die Regierung Rechte so einsetzt, wie die, die uns eigentlich zustehen, aber nie respektiert werden, um uns letztlich reinzulegen.

Wie treffen wir Munduruku unsere Entscheidungen?

  • Wenn ein Vorhaben uns alle betrifft, dann ist unsere Entscheidung eine kollektive. Die Regierung darf nicht nur einen Teil des Volks der Munduruku konsultieren (sie darf zum Beispiel nicht nur die Munduruku des Mittleren Tapajós oder nur die des Oberen Tapajós konsultieren).
  • Keine Vereinigung der Munduruku entscheidet für das Volk der Munduruku, keine Organisation redet für unser Volk. Die Entscheidungen unseres Volks werden auf der Vollversammlung getroffen, die durch unsere Kaziken einberufen wird. Es sind unsere Kaziken, die gemeinsam und zusammen Zeit und Ort der Generalversammlung festlegen und die Munduruku zur Teilnahme einladen. Auf diesen Versammlungen werden die Entscheidungen im Anschluss an die Debatte getroffen: Wir diskutieren und kommen zu einem Kosens. Wenn es nötig ist, diskutieren wir viel. Wir stimmen nicht ab. Wenn es keinen Konsens gibt, entscheidet die Mehrheit.

Was erwartet das Volk der Munduruku von dieser Konsultation?

Wir erwarten, dass die Regierung unsere Entscheidung respektiert. Wir haben Veto-Recht.

Sawe!!“

1Siehe hierzu ausführlich die Chronologie unter https://www1.folha.uol.com.br/poder/2019/08/bolsonaro-diz-que-errou-ao-insistir-em-demarcacao-de-terras-indigenas-pela-agricultura.shtml

2Siehe „Wir werden Widerstand leisten! SURARA! SAWÊ!“, unter: https://www.gegenstroemung.org/web/blog/wir-werden-widerstand-leisten-surara-sawe/

3Ratifiziert durch den Kongress durch das DECRETO LEGISLATIVO Nº 143, DE 2002, siehe https://www2.camara.leg.br/legin/fed/decleg/2002/decretolegislativo-143-20-junho-2002-458771-convencao-1-pl.html

4DECRETO Nº 5.051, DE 19 DE ABRIL DE 2004: Promulga a Convenção nº 169 da Organização Internacional do Trabalho – OIT sobre Povos Indígenas e Tribais, siehe http://www.planalto.gov.br/ccivil_03/_ato2004-2006/2004/decreto/d5051.htm

5Siehe hierzu ausführlich „Os protocolos de consulta“, in: „Protocolos de consulta prévia e o direito à livre determinação“. Hrsg. von Verena Glass et al, Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo, 2019

6Siehe „Der Belo-Monte-Staudamm und die Rolle europäischer Konzerne.“ Von Tina Kleiber und Christian Russau unter Mitwirkung von Heike Drillisch und Herbert Wasserbauer. GegenStrömung, Juli 2014. Unter: https://www.gegenstroemung.org/web/wp-content/uploads/2014/07/GegenStr%C3%B6mung_Belo-Monte-und-Europ-Konzerne_2014.pdf

7Siehe https://www.conjur.com.br/2011-abr-05/oea-brasil-suspenda-obras-belo-monte-proteger-indigenas

8Siehe http://global.org.br/programas/brasil-endossa-frente-de-enfraquecimento-do-sistema-interamericano-de-direitos-humanos/

9Nicht zu verwechseln mit den Wasserfällen Sete Quedas, die durch den Bau des Staudamms Itaipu an der Grenze zu Paraguay in den 1970er Jahren geflutet wurden.

10Siehe https://amazoniareal.com.br/o-valor-da-ancestralidade-para-os-munduruku-impresso-em-sete-quedas/

11Siehe hierzu https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/erklaerung-anklage-des-volkes-munduruku und https://www.gegenstroemung.org/web/blog/indigene-kayabi-munduruku-und-apiaka-protestieren-weiter-gegen-das-wasserkraftwerk-sao-manoel-am-fluss-teles-pires-in-amazonien/ und https://www.gegenstroemung.org/web/blog/besetzung-der-baustelle-des-wasserkraftwerks-sao-manoel-am-fluss-teles-pires/

12Siehe https://amazoniareal.com.br/povo-munduruku-resgata-12-urnas-funerarias-de-museu-no-mato-grosso/

13Siehe https://www.kritischeaktionaere.de/munich_re/1754/

14Siehe hierzu http://www.mpf.mp.br/atuacao-tematica/ccr6/documentos-e-publicacoes/protocolos-de-consulta-dos-povos-indigenas und „Os protocolos de consulta“, in: „Protocolos de consulta prévia e o direito à livre determinação“. Hrsg. von Verena Glass et al, Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo, 2019, S. 109ff.

15Siehe Felício Pontes Jr, in: „Protocolos de consulta prévia e o direito à livre determinação“. Hrsg. von Verena Glass et al, Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo, 2019, S. 15

16Siehe zusammenfassend „Protocolos de consulta prévia e o direito à livre determinação“. Hrsg. von Verena Glass et al, Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo, 2019

17Siehe https://valor.globo.com/brasil/coluna/brasil-e-voto-isolado-na-oit-e-ameaca-deixar-convencao-sobre-povos-indigenas.ghtml

18Siehe https://www1.folha.uol.com.br/poder/2019/10/grupo-do-governo-articula-revisao-de-consulta-a-indios-sobre-grandes-obras.shtml

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Wie Bolsonaro am Ast sägt, auf dem die Wirtschaft sitzt https://www.gegenstroemung.org/web/blog/wie-bolsonaro-am-ast-saegt-auf-dem-die-wirtschaft-sitzt/ Tue, 25 Feb 2020 15:42:07 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=2018 Die brasilianische Regierung von Jair Bolsonaro will mit der Inwertsetzung Amazoniens Wirtschaftswachstum schaffen. Riesige Infrastrukturprojekte – Staudämme, Straßen, Häfen und Eisenbahnlinien – sollen Agrarindustrie und Bergbau in die Region locken, was unweigerlich mit der Rodung des Waldes verbunden ist. Doch hochrangige Wissenschaftler*innen warnen jetzt, dass die Regierung damit am Ast sägt, auf dem die brasilianische Regierung hockt. Denn die Zerstörung des amazonischen Regenwaldes nähert sich dabei immer mehr einem „tipping point“ – wenn etwa 20% der ursprünglichen Waldfläche gerodet ist, werden sich Wissenschaftler*innen zufolge große Teile des Ökosystems unumkehrbar von einem Regenwald in eine Savanne verwandeln. Dies hat – zusammen mit dem Klimwandel – schwerwiegende Folgen für den regionalen Wasserkreislauf, von dem auch die Bevölkerungszentren im Südosten des Landes abhängen. Nicht zuletzt die von Bolsonaro geförderten Projekte selbst – Staudämme und Agrarindustrie – werden betroffen sein. Expert*innen warnen, dass die Agrarindustrie sich bei verschärfenden Dürren auf Ernteausfälle einstellen muss. Bereits jetzt wird das gerade erst für 9,5 Milliarden US-Dollar fertig gestellte Wasserkraftwerk Belo Monte von sinkenden Wasserständen am Xingu-Fluss beeinträchtigt, was ebenfalls den Bergbau, der von der Energie der Wasserkraftwerke abhängt, betrifft.

Hintergrundartikel zum Thema bei Mongabay hier.

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Staudamm Belo Monte: Bundesstaatsanwaltschaft fordert Revision der festgelegten Durchflussmengen des Xingu-Fluss https://www.gegenstroemung.org/web/blog/staudamm-belo-monte-bundesstaatsanwaltschaft-fordert-revision-der-festgelegten-durchflussmengen-des-xingu-fluss/ Mon, 09 Sep 2019 10:23:30 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=1955 Anwohner*innen und die Fischmigration leiden unter den nach Wirtschaftlichkeitskriterien für den Staudamm festgelegten Wasserdurchflussmengen.

Die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft fordert eine schnelle und grundlegende Revision der festgelegten Durchflussmengen für den Staudamm Belo Monte am Xingu-Fluss im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará. Denn die Anwohner*innen beschweren sich seit Inbetriebnahme der ersten Turbinen 2016, dass die Wassermenge der sogenannten Großen Flusschleife („Volta Grande do Xingu“) ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird. Auf 100 Kilometer Länge wird der Volta Grande bis zu 80 Prozent der Wassermenge entzogen, um diese mittels des damals für den Staudamm Belo Monte ausgehobenen Kanals in das neue große Reservoir der Wasserkraftanlagen zu leiten und dort die errechnete Wirtschaftlichkeit des Staudamms zu gewährleisten. Das sogenannte „Konsenshydrogramm“ legte fest, dass rund 80 Prozent des Xingu-Flusses für den Antrieb der Turbinen des Kraftwerks verwendet werden und eben nur 20 Prozent in die Große Flusschleife gelangen müsste, dies sei ausreichend für die dortigen Flussanwohner*innen. Die Staatsanwaltschaft MPF hat aber nun festgestellt, dass diese Zahl damals ohne die notwendigen technischen Studien definiert wurde und jetzt zeigten sich die negativen Folgen für den Fluss, das lokale Biom und die nahewohnende einheimische Bevölkerung.
Den Einwohner*innen entlang der Flussschleife geht durch den Niedrigstand des Wasser die Möglichkeit des durchgängigen Flusstransports abhanden, und die Fischmigration hat durch die Stauwerke stark gelitten. Durch den Niedrigstand des Flusses wird auch das Wasser brackiger und sauerstoffärmer, da es sich mehr und mehr teilweise um gänzlich stehendes Wasser handelt, was der Fischpopulation zusetzt.
Die Bundesstaatsanwaltschaft MPF will nun die Revision dieses „Konsenshydrogramm“, und stellt dabei auch gleich klar, warum allein schon der Name irreführend sei. „Dieser technische Name kann irreführend sein, denn das Konsensus-Hydrogramm bedeutet nicht, dass dies ausgehandelt wurde“, sagte Ubiratan Cazetta, Staatsanwalt in Pará, gegenüber Medien. Zudem gebe hinreichende „Elemente, die darauf hindeuten, dass das ganze so nicht nachhaltig ist“, so Cazetta.

Ein Vorfall von Februar 2016, als die Ingenieur*innen das Staureservoir rechtzeitig zur pompösen Eröffnung im Mai genügend gefüllt haben wollten, zeigt das Dilemma zwischen Wirtschaftlichkeit für den Damm und massiven Risiken für die flussabwärts lebende Bevölkerung:

Zé Carlos gehört zu denen, die wenig lächeln. Er ist wütend wegen dem, was vor nicht allzu langer Zeit seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, zugestoßen ist. Zé Carlos Arara ist der indigene Anführer, der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, einer rund 100 Kilometer langen natürlichen Flussschleife des Xingu liegt, flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses. Als Abkürzung des Flusslaufes haben die Staudammbetreiberin, das größtenteils aus staatlichen Energieversorgern zusammengesetzte Firmenkonsortium Norte Energia, und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswassers in das große Staureservoir leitet, das der Deich Nr. 6C sichert. Ende Februar 2016 war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller, als von den Ingenieur*innen geplant, volllief. Oder aber diese hatten sich gründlich verrechnet.
Im Dorf der Arara leben über 100 Menschen, und sie verfügen über Radiofunk, über den sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Ende Februar war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy, und ein Mitarbeiter von Norte Energia rief an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen würden und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die Anwohner*innen davon in Kenntnis setzen könne? „Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt: ‚Kann man das nicht morgen machen? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“. Das gab Zé Carlos Arara Mitte März 2016 in Altamira der Bundesanwältin Thaís Santi zu Protokoll. Die Bundesstaatsanwältin ermittelt seit Jahren gegen die Betreiber- und Baufirmen von Belo Monte, hat bereits mehrere Klagen gegen sie eingereicht. Gemeinsam mit ihren KollegInnen der Bundesstaatsanwaltschaft in Belém sowie den Landesstaatsanwält*innen des Bundesstaats Pará nehmen sie die Beschwerden der von Belo Monte betroffenen Bevölkerung auf, ermitteln und erheben Anklage vor Gericht, um die Rechte der Betroffenen zu schützen. Doch die Gerichte lassen sich meist reichlich Zeit.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die BewohnerInnen der aldeia vorher gewarnt worden waren. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik davon. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche auf 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte. „Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, so Thaís Santi. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“

// christian russau

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„Die Katastrophe am Staudamm Hidroituango ist Ihr größter Einzelschaden“ https://www.gegenstroemung.org/web/blog/die-katastrophe-am-staudamm-hidroituango-ist-ihr-groesster-einzelschaden/ Thu, 16 May 2019 13:28:24 +0000 http://www.gegenstroemung.org/web/?p=1911 GegenStrömung dokumentiert die Rede von Alejando Pacheco (Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit, München) auf der Jahreshauptversammlung der Münchener Rück am 30. April 2019 in München

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin Alejandro Pacheco Zapata, Kolumbianer und stelle heute einige Fragen im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit von Munich Re bei dem Staudamm Hidroituango in Kolumbien.

Her Wenning, ich vermute, Sie kennen die Folgen von Staudämmen, wie die Methan- oder Stickoxidbilanzen sowie die CO2 Emissionen, ganz gut. Das ist nicht das erste Mal, dass Munich Re in Schwierigkeiten geraten ist, wegen einem Staudaumprojekt. Vielleicht ist aber Ihnen noch nicht klar, welche anderen direkten Folgen solche Projekte haben, die Sie als Rückversicherer – und Sie meine Damen und Herren, als Aktionärinnen und Aktionäre – tragen müssen.

In diesem Raum wurde schon in den letzten Jahren zum Beispiel über Hidrosogamoso oder über den Belo-Monte-Staudamm und sicher über andere Projekte gesprochen. Nun spreche ich dieses Jahr über Hidroituango. Es ändert sich nichts: Baufehler, Menschenrechtsverletzungen und vor allem – Korruption.

Herr Wenning, warum hat das Unternehmen in Kolumbien mit dem Projekt Hidroitunago einen Vertrag abgeschlossen? Das Projekt ist vom Anfang an in Korruption verwickelt gewesen und wird mit Massakern, gewaltsamen Verschwindenlassen, Ermordungen von Vertreter*innen der betroffenen Gemeinschaften und mit der Behinderung der Übergangsjustiz in Zusammenhang gebracht. Hinzu kommen negative Auswirkungen auf die Umwelt und, schlimmer noch, die Gefahr humanitärer Katastrophen aufgrund schwerwiegender Fehler bei der Risikoabschätzung beziehungsweise bei den Bauarbeiten.

Dieses Projekt wurde heftig kritisiert, sowohl im Kongress wie auch auf regionaler und internationaler Ebene. Nun muss der Betreiber über 800.000 Euro als Strafe zahlen, weil er in drei verschiedenen Baustellen ohne Umweltgenehmigung vorgegangen ist. 

Seit der Planungsphase von Hidroituango gab es Massaker und Fälle von gewaltsamen Verschwindenlassen im Projektgebiet. In der Überflutungszone befinden sich Massengräber. Rund 900 Menschen in dieser Gegend gelten als gewaltsam verschwunden gelassen. Ihre sterblichen Überreste befinden sich nun möglicherweise unter dem Wasser des Stausees. Damit ist ihren Angehörigen sogar die Hoffnung genommen, wenigstens die sterblichen Überreste ihrer Liebsten zu finden – ein schwerwiegendes Hindernis für die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Übergangsjustiz. 

Seit 2013 wurden überdies fünf Vertreter der vom Projekt betroffenen Gemeinden ermordet. Außerdem fiel im vergangenen Jahr der zentrale Umleitungstunnel der Baustelle für den Fluss Cauca aus; nach schweren Regenfällen war er durch Erdrutsche, Bäume und Murenabgänge verstopft worden. Der zweite Umleitungstunnel war zuvor von der Baufirma zubetoniert worden. Da die Staumauer von Hidroituango schon stand, stieg das Wasser bedrohlich weiter an und flutete erste angrenzende Siedlungen. Am 12. Mai 2018 brach das auch in den Tunneln angestaute Wasser abrupt durch, so dass die anschließende Flutwelle weitere Landfläche flutete, Ortschaften zerstörte, einen Millionenschaden erzeugte und eine großflächige Evakuierung der bedrohten Bevölkerung notwendig machte.

Mehr als 30.000 Menschen waren direkt von den Überschwemmungskatastrophen betroffen und bis heute nicht angemessen entschädigt. Was macht Ihre Firma als Rückversicherer, um diese Opfer zu entschädigen? Sie haben sicher mehr Erfahrung in diesem Bereich als der Betreiber, weil dies nicht der erste Fall bei Ihnen ist.

Aus ökologischer Sicht hat das Projekt noch andere negative Auswirkungen wie Entwaldung, Dürren, Probleme mit der Abfallwirtschaft und einen Mangel an Fischen verursacht. Über 34.000 Fische sind am Ufer des Flusses gestorben. Deshalb wurde die vorübergehende Außerkraftsetzung von Umweltlizenzen beschlossen. Es besteht nach wie vor ein hohes Risiko, dass der Damm bricht oder dass große Mengen Wasser durch den Berg sickern. Wo sind bei Ihnen die Prinzipien für nachhaltige Versicherungen geblieben? Sie haben sich ihnen angeschlossen. Was hat Ihre Reputationsrisikosteuerungs-Kommite gemacht als EPM in 2015 mit den ersten Hindernissen gestolpert ist?

In diesem Jahr wurde eine Prämie für die Beschleunigung des Dammbaus ausgelobt. Die Arbeiten begannen, ohne die für die Änderungen der Baupläne notwendige Umweltgenehmigung. Die Prämie erfordert eine Rekord-Bauzeit und das Unternehmen hat bereits anerkannt, dass dies eine der Ursachen für die aktuellen Probleme ist. Deswegen verbucht die Munich Re den Fall „Hidroituango“ laut Geschäftsbericht unter „von Menschen verursachten Großschäden“ und stellt den „größten Einzelschaden“ dar. Nun muss die Firma für die entstandenen Zerstörungen rund um das umstrittene Wasserkraftwerk Hidroituango eine dreistellige Millionensumme bezahlen.

Die Risiken waren sehr hoch und ich denke, sie stellen heute geringere Gewinne und geringere Renditen für die Aktionäre dar. Ihr Ziel zu der Schaden-Kosten-Quote für Rückversicherungsschäden war 99%. Das Ergebnis im Jahr 2018 betrug aber 99,4%. Ihr Ziel zu Economic Earnings über 2,1 wurde mit 1,9 Milliarden Euro auch nicht erreicht. Hätten Sie das ohne Hidroituango vielleicht geschafft?

Aus all diesen genannten Gründen sind wir der Ansicht, dass der Vorstand unter der Leitung von Herrn Wenning, nicht entlastet werden sollte und fragen:

1. Herr Wenning, deutsche Organisationen und die kolumbianische Organisation „Rios Vivos“ haben seit Jahren vor den Folgen des Großprojekts Hidroituango für Menschen und Umwelt ausdrücklich gewarnt und dabei auch deutsche Firmen und Politik mit Nachdruck aufgefordert, sich nicht an diesem Projekt zu beteiligen. Warum hat denn das Unternehmen in Kolumbien mit Hidroituango einen Vertrag abgeschlossen?

2. Wie hoch genau ist die Entschädigung, die die Firma an Hidroituango wegen von Menschen verursachten Großschäden bezahlen muss?

3. Welche Reichweite haben Ihre Nachhaltigkeitspolitik bzw. Ihre Klimastrategie und Ihre Zustimmung der Prinzipien für nachhaltige Versicherungen? Gelten sie für Projekte außerhalb Deutschlands nicht? Oder wäre es eine Vorstandsaufgabe, die Anwendung der entsprechenden Leitlinien zu überprüfen?

4. Muss die Firma auch eine Entschädigung für die Wiedergutmachung der Opfer bezahlen? Was macht Ihre Firma als Rückversicherer, um diese Opfer zu entschädigen?

5. Für 2019 haben Sie das Ziel von Schaden-Kosten-Quote Rückversicherungsschaden um 98% erleichtert sowie die Economic Earnings auf mehr als 2,5 Milliarden gehoben. Was passiert, wenn der Damm bricht?  In den letzten Tagen gab es neue Erdrutsche. Oder sehen Sie etwa keine Risiken mehr bei Hidroituango und bei anderen Staudämmen?

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ich freue mich auf eine ausführliche Antwort. 

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