Wütende Elephanten, sterbende Fische und ausgedorrte Äcker dank „Small is beautiful“

Von Christian Russau

In Südindien, im Staat Karnataka, fliesst der Fluss Gundia, ein Zufluss des Netravathi-Flusses. Wegen seiner geologischen Lage scheint es Staudammbefürwortern ausgemacht, dass dies der ideale Ort für Wasserkraftwerke sei. Vor allem für sogenannte kleine Wasserkraftwerke. Dezentral und klein, dies sei doch beautiful, so die Maxime, da es dort zu deutlich weniger sozialen und Umweltfolgenproblemen als bei Großstaudämmen käme. Aber stimmt das? Eine Feldstudie, die die Region zwischen den Jahren 1999 und 2013 untersuchte und sich dabei die Folgen von vier sogenannten Kleinwasserkraftprojekte vor Ort anschaute und deren Folgen analysierte, kam zu anderen Schlüssen. Was das mit wütenden Elephanten, sterbenden Fischen und ausgedorrten Äckern dank „Small is beautiful“ zu tun hat, wird hier erläutert.

In qualitativen Interviews mit den Bewohnern haben die Forscher zunächst festgestellt, dass es zwischen 1999 und 2004 – vor dem Bau der kleinen Wasserkraftwerke – insgesamt 248 Zwischenfälle zwischen Elefanten und Anwohnern gab. Die Elephanten zerstörten die Felder, drangen in Siedlungen ein und brachten Menschen in Gefahr. Nach dem Bau der vier kleinen Wasserkraftwerke in den Jahren 2005 bis 2013 stieg diese Zahl der Konflikte auf 2.030 an, eine Verachtfachung.

Die Ursache: durch die Fragmentierung des Wanderungsbiet der Elephanten mittels Leitungen, Kanälen, Straßen und infolge dessen auch Waldrodungen sowie durch Reduzierung der Wassermengen in den ursprünglichen Flussläufen und damit einhergehender vetrocknender Vegetation wie dem für die Nahrung der Elephanten unerlässlichem Bambus entlang der Flussläufe waren die Elephanten mehr und mehr in ihrem Lebensumfeld und in ihrer Ernährung eingeschränkt, so dass sie vermehrt auf die Felder und in die Dörfer der Menschen auf Suche nach Nahrung eindrangen. Hinzu kam es durch die sinkenden Wasserpegel der ursprünglichen Flussläufe zu zurückgehenden Fischpopulationen: Die Fische schwammen wie gewohnt saisonal zum Laichen flussaufwärts, strandeten aber wegen des geringeren Wasserstands auf Sandbänken, wo sie verendeten, was den Kleinfischern das Überleben schwerer machte, gar in etlichen Fälle ihre Ernährungssouveränität in Gefahr brachte. Und die verringerte Wassermenge reichte nach der Abzweigung für die Kleinwasserkraftwerke nicht mehr für die Bewässerung durch das traditionelle Kanal- und Leitungssystem für die lokale kleinbäuerliche Bewässerungslandwirtschaft. Dabei erwies sich zudem, dass jedes Kleinwasserkraftwerk lokale Folgen zeitigte, aber vor allem die Fülle der oft in Reihe geschalteten Kleinwasserkraftwerke dann über die lokale Ebene hinaus regional für die Menschen und die Umwelt gravierendere Folgen hatte, als zuvor angenommen. Möglich macht dies vor allem die Tatsache, dass Kleinwasserkraftwerke (nicht nur in Indien, in Brasilien besipielsweise auch) als harmlos gelten, mit geringen Impakten für Mensch und Umwelt, da sie eben „klein“ seien, und dass dies eben die Begründung dafür ist, dass diese Kleinwasserkraftwerke keine Umweltverträglichkeitsprüfung und von daher keiner Umweltprüfung durch Behörden benötigen. Sie können einfach gebaut werden. „Small is beautiful“, macht es alles einfach – und bedenkt dabei nicht die potentiellen Folgen.

Das Beispiel Brasilien verdeutlicht dies: Eine Untersuchung über den Fall von Kleinwasserkraftwerken an den Zuflüssen des brasilianischen Pantanal sollte diesbezüglich noch weiter nachdenklich stimmen.

Eines der größten Binnenland-Feuchtgebiete der Erde, das brasilianische Pantanal, ist durch den Bau von Kleinwasserkraftwerken an den Zuläufen bedroht. Dies geht aus der neuesten Studie von Wissenschaftlern des Instituto Nacional de Ciência e Tecnologia em Áreas Úmidas (INCT-INAU) im Bundesstaat Mato Grosso hervor, die von der Bundesuniversität Mato Grosso zitiert wird (GegenStrömung berichtete). Demnach solle die Zahl der Kleinwasserkraftwerke an den Zuflüssen zu dem artenreichen, unter Naturschutz stehenden und seit 2000 zum Welterbe durch die UNESCO anerkannten Feuchtbiotop von gegenwärtig 41 durch 96 weitere Kleinwasserkraftwerke erhöht werden. Die Folgen, so die Wissenschaftler auf Basis ihrer dreijährigen Untersuchung, seien vor allem die Unterbrechung der nährstoffreichen Sedimentfracht unterhalb der Stauwerke, die Änderung des Flusslaufs und die Zunahme der Wassertrübung sowie die Beeinträchtigung der Fischmigration auf dem Weg zu den Laichgründen. „Wenn all diese 96 Vorhaben zusätzlich zu den bereits bestehenden 41 Kleinwasserkraftwerken in die Tat umgesetzt werden, gehen unsere Schätzungen davon aus, dass 30 Prozent der Fischmigrationsrouten verloren gehen“, so Professor Ibraim Fantin von der Bundesuniversität Universidade Federal de Mato Grosso (UFMT), der für die Studie „Auswirkungen von Wasserkraftwerken auf die Flüsse des Pantanal“ („Impactos das Hidrelétricas nos rios do Pantanal“) zuständig war.

Der Forscher Fantin warnte zudem vor der Verkennung der auch von Kleinwasserkraftwerken ausgehenden Gefahr für das Gleichgewicht der Natur und die Biodiversität. Denn die bis zu 30 Megawatt großen „Kleinwasserkraftwerke“ werden oft in Reihe in den Flüssen gebaut, ohne dass deren kumulativen Effekte in Betracht gezogen würden. Die brasilianische Gesetzgebung biete eben diesen Kleinwasserkraftwerke, wenn ihre Stauseen kleiner als 13 Quadratkilometer seien, die Möglichkeit der Befreiung von den eigentlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfungen an, die in Brasilien EIA-Rima heißen. Im Bundesstaat Mato Grosso, wo Zuflüsse des Pantanalgebiets fließen, obliege die Entscheidung, ob bei einem Kleinwasserkraftwerk eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden müsse, den Umweltbehörden des Bundesstaats. Diese analysierten in der Regel aber nur die jeweils lokal begrenzten Auswirkungen des jeweiligen Kleinwasserkraftwerks. Zusammentreffende und gegebenenfalls kumulierend wirkende Effekte würden nicht in Betracht gezogen, ebensowenig wie Folgen wie flussabwärts oder -aufwärts Beachtung finden würden in den Entscheidungen zum Bau von Kleinwasserkraftwerken, so die Forscher. „Dies sind die Faktoren, die uns in Bezug auf die Zukunft des Pantanal extrem besorgt sein lassen, zumal wir noch immer nicht genau wissen, was passieren wird, wenn all diese 96 Vorhaben umgesetzt werden“, so Ibraim Fantin.

Es gibt keine international gültige Definition eines „Kleinwasserkraftwerks“. Was als Kleinwasserkraftwerk zählt, variiert von Fall zu Fall. Laut der International Commission on Large Dams gelten alle Staumauern ab 15 Metern Höhe vom Fundament bis zur Krone oder von 5 bis 15 Metern mit einem Reservoir von mehr als drei Millionen Kubikmetern Großstaudämme. In vielen Ländern wird aber dagegen eine Megawattzahl zur Klassifizierung herangezogen: In der Regel werden demnach Kraftwerke bis zehn MW Nominalkapazität als Kleinwasserkraftwerke angesehen, von zehn bis 30 MW gelten sie als mittelgroße Kraftwerke. Länder mit besonders hohem Wasserkraftpotenzial wie Brasilien, China und Indien betrachten dhingegen alle Kraftwerke bis 30 MW als „klein“, wie dem „Handbuch Kleinwasserkraftwerke des Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK / Bundesamt für Energie BFE: Handbuch Kleinwasserkraftwerke. Informationen für Planung, Bau und Betrieb, Ausgabe 2011“ entnommen werden kann. So wird z. B. auch das Agua-Zarca-Projekt in Honduras immer wieder als harmlos klingendes „Kleinwasserkraftwerk“ dargestellt. Auch bei Small Hydro ist also Vorsicht geboten: sie ist weder per se umweltfreundlich noch gleichbedeutend mit menschenrechtskonform.

Auch bei Small Hydro ist also grundsätzlich Vorsicht geboten, um die Umwelt vor „beträchtlichen Desillusionierungen und Umweltschäden zu bewahren“. So kommt eine umfassende Studie zu Kleinst- und Kleinwasserkraftwerken zu dem Schluss, dass es bei der Frage, ob ein Kleinenergieprojekt von den Betroffenen sozial und politisch akzeptiert wird, immer auf mindestens vier Faktoren ankommt: 1) Auf den Grad an Aufdringlichkeit und Kontroversität der angewandten Technologie; 2) auf die Größe des Projekts; 3) auf den Grad, zu dem die Vorteile durch das Projekt privat oder kollektiv waren sowie 4) auf den Grad, zu dem der Projektentscheidungsfindungsprozess als offen, partizipativ und das Gemeinwesen miteinbindend wahrgenommen wurde.

Es geht wie so oft um die Frage, inwieweit ein wirklich partizipativer Stakeholder-Ansatz bei der Beteiligung aller Betroffenen und Beteiligten zur Entscheidung von Projekten, die ein soziales Gemeinwesen betreffen könnten, garantiert wird.