Soziale Bewegungen sehen Einigung als Schritt in die richtige Richtung, aber als noch nicht hinreichend an.
Von Christian Russau
Am 5. November 2015 brach der Damm des Rückhaltebeckens Fundão nahe der Kleinstadt Mariana im Bundesstaat Minas Gerais in Brasilien. Millionen Kubikmeter an Bergwerksschlamm aus der Eisenerz-Mine der Firma Samarco und ein Tsunami aus Schlamm zerstörte mehrere Dörfer, 349 Häuser, Schulen und Kirchen… Die Flüsse Rio Gualaxo do Norte, Rio do Carmo und Rio Doce wurden verseucht. Der Tsunami aus Eisenerzschlamm und Schwermetallen schob sich wochenlang unerbittlich durch das Flusstal des Rio Doce, Heimat und Arbeitsplatz zigtausender Fischer:innen. Durch den Dammbruch starben 19 Menschen, unzählige weitere erlitten Schädigungen ihres Einkommens, Habs und Gut, konnten jahrelang nicht mehr fischen gehen, sehr lange war für hunderttausende Menschen entlang des Flusstales Rio Doce die Trinkwasserversorgung unterbrochen, das Wasser musste per Carro-Pipa (mit Lastern) herangeschafft werden. Krankheiten wie Hautreizungen, Asthma durch den nach einer Weile getrockneten Staub, der lose durch die Luft fliegt, psychische Krankheiten, all dies häufte sich in den Jahren nach dem Dammbruch. Und die Betroffenen und Opfer warten seit 9 Jahren auf eine angemessene Entschädigung.
Samarco ist eine Aktiengesellschaft, die zu gleichen Teilen im Besitz der australisch-britischen BHP Billiton Brasil Ltda. und der brasilianischen Vale S.A. steht. Neun Jahre nach dem verheerenden Dammbruch von Bento Rodrigues in Brasilien müssen die verantwortlichen Bergbaukonzerne nun Zahlungen in Milliardenhöhe leisten. Die Regierung unterzeichnete mit der Firma Samarco sowie seinen beiden Mutterunternehmen Vale und BHP Billiton gestern eine neue Vereinbarung über Entschädigungen in Höhe von 132 Milliarden Reais an die betroffenen Familien, Städte und Gemeinden – und die Firmen rechnen einen weiteren Betrag (38 Mrd. Reais) hinzu an Mitteln, die sie bereits in der Vergangenheit geleistet hätten. Insgesamt also ein Betrag von 170 Mrd Reais. Zur Erinnerung: vor wenigen Tagen erklärte Vale für das abgeschlossene dritte Quartal 2024 einen Gewinn von 13,6 Mrd Reais, in einem Quartal.
Agếncia Brasil dröselt die Zahlen auf, die dann schon gar nicht mehr so beeindruckend aussehen (Reais durch ca. 6 teilen = ca. Euro-Betrag): „Von den 132 Mrd. R$, die in der Vereinbarung vorgesehen sind, sind 100 Mrd. R$ neue Mittel, die über einen Zeitraum von 20 Jahren von den Unternehmen an die Regierung gezahlt werden müssen und die für verschiedene Maßnahmen verwendet werden sollen. Die Unternehmen werden außerdem 32 Mrd. R$ für die Entschädigung der Betroffenen und für Wiedergutmachungsmaßnahmen bereitstellen, die weiterhin in ihrer Verantwortung liegen.
Die Firmen sagen auch, dass sie bereits 38 Milliarden R$ an sozio-ökologischen Reparationen über die Renova-Stiftung ausgezahlt haben, die von den Unternehmen zur Durchführung von Reparationsmaßnahmen gegründet wurde.“
Also 6 Mrd Euro in der Vergangenheit über die RENOVA-Stiftung ausgegeben, 5 Mrd Euro an die 300.000 Betroffenen (Anwohner:innen, Fischer:innen etc) und in den nächsten 20 Jahren noch 16 Mrd Euro an Staat, Land und Kommunen: das wären noch einmal 800 Mio € je Jahr.
Ruft man sich aber in Erinnerung, dass die (halbwegs zufriedenstellende) Säuberung des durch Industrieabwässer verunreinigten Rheins und die bescheidenen Ansätze zur Renaturierung von Deutschlands größtem Fluss in den vergangenen 50 Jahren um die 100 Milliarden Euro gekostet haben, so kann mensch die jetzigen Zahlen eher in Realtion setzen und ihre Bedeutung annähernd begreifen.
Das Movimento dos Atigindos pelas Barragens MAB äußert ihre Einschätzung zu der gestrigen Einigung:
„In diesem Sinne glauben wir, dass der vorgelegte Vorschlag eine neue Etappe im Kampf der Bevölkerung für eine vollständige Wiedergutmachung für die Rechte der betroffenen Menschen und der Umwelt einläutet. Wir erkennen die Bedeutung des Abkommens und seine Fortschritte für die Betroffenen an, auch wenn es Unzulänglichkeiten aufweist. […] Der von den Betroffenen und unseren Verbündeten und Partnern geführte Kampf des Volkes hat es möglich gemacht, dass der jetzige Vorschlag besser ist als der Ende 2022, am Ende der Amtszeit der vorherigen Regierung, vorgelegte Vorschlag, der der Bevölkerung extrem geschadet hätte. Im Vergleich zum Vorschlag von 2022 verdoppelt die aktuelle Vereinbarung den Betrag der neuen Mittel, die für die Entschädigung der Betroffenen zur Verfügung gestellt werden, auf über 132 Milliarden R$. Dieser Betrag reicht jedoch nicht aus, um die Rechte der Betroffenen vollständig wiederherzustellen. […]
[…] die vorgeschlagenen Beträge decken nicht die volle Wiedergutmachung ab. In diesem Sinne geht der Kampf für eine gerechte Entschädigung weiter, sei es vor brasilianischen Gerichten, vor Regierungen oder vor internationalen Gerichten, wie im Fall der englischen Klage, die gerade in London verhandelt wird.
Wir werden weiterhin für die strafrechtliche Verantwortung der Unternehmen kämpfen und das größte sozio-ökologische Verbrechen in der Geschichte des Landes anprangern, das 19 Menschenleben forderte, eine Fehlgeburt verursachte, 684 Kilometer des Flusses Doce, die Küsten von Espírito Santo und Bahia verseuchte und mehr als 2,5 Millionen Menschen in drei Bundesstaaten betraf. Dieses Verbrechen darf nicht ungestraft bleiben, und es ist die Pflicht der Behörden und insbesondere der Justiz, die Verantwortlichen zu verurteilen. […] Die Kontinuität des Kampfes, in organisierter Form und mit intensiver Mobilisierung der Bevölkerung, ist der Weg, um die Fortschritte zu erreichen, die wir in der Vereinbarung gemacht haben, und um eine vollständige Entschädigung für das zu garantieren, was noch unzureichend ist.“
Die folgenden Bilder zeigen das Flusswasser des Rio Doce wenige Monate nach dem Dammbruch: [alle Fotos christian russau]