69,7 Prozent der Haushalte fiel es laut der Untersuchung nach der Fertigstellung des Staudamms schwieriger, die gewünschten Mengen und Arten von Lebensmitteln zu bekommen.
Von Christian Russau
Die Kritiker:innen (siehe hier eine Zusammenfassung der Impakte des Staudamms Belo Monte) hatten schon immer davor gewarnt, wurden aber nicht gehört. Nun hat eine neue Studie die Fakten auf den Tisch gelegt: „Eine Erhebung in der Stadt Altamira umfasste eine Zufallsstichprobe von 500 Haushalten. Die Strukturgleichungsmodellierung zeigte, dass 60 % der Bevölkerung in unterschiedlichem Maße von Ernährungsunsicherheit betroffen waren. Armut, von Frauen geführte Haushalte, geringere Bildung, Jugend und Arbeitslosigkeit waren stark mit höherer Ernährungsunsicherheit verbunden. Überfüllte, offiziell betroffene und umgesiedelte Haushalte waren ebenfalls von erhöhter Ernährungsunsicherheit betroffen. Unsere Ergebnisse unterstreichen die Ernährungsunsicherheit in der vom Belo-Monte-Staudamm betroffenen Region und verdeutlichen, dass dieses wichtige Thema bei der Planung und Umsetzung von Wasserkraftwerken berücksichtigt werden muss“, heißt es in dem Abstract der Studie „Poverty–Food Insecurity Nexus in the Post-Construction Context of a Large Hydropower Dam in the Brazilian Amazon“, veröffentlicht im International Journal of Environmental Research and Public Health Ende Januar dieses Jahres.
In der Studie wurde die brasilianische Skala für Ernährungsunsicherheit in Haushalten (Escala Brasileira de Insegurança Alimentar – „Ebia“) verwendet. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftlich validierte Methode zur Analyse des Phänomens des Zugangs zu Nahrungsmitteln in ausreichender Qualität und Quantität und des Hungers, sprich: zur Einordnung der Betroffenen in Kategorien wie Ernährungssicherheit (dies bedeutet, über eine ausreichende Menge und Qualität der Lebensmittel je Haushalt zu verfügen), leichte Ernährungsunsicherheit (dies bedeutet eine beeinträchtigte Qualität und Besorgnis über die künftige Verfügbarkeit von Lebensmitteln) oder mäßige bis schwere Ernährungsunsicherheit (dies bedeutet eine unzureichende Qualität und beginnende Lebensmittelknappheit oder unzureichende Menge an Lebensmitteln, die verschiedene Stufen des Hungers bei Erwachsenen und sogar Kindern im Haushalt umfasst), wie auch die Agência Fapesp in ihrem Bericht zur Studie erläutert.
Die Studie ergab, dass durch den Bau des Staudamms Belo Monte die Auswirkungen desselben in Bezug auf die in Umsiedlungsgebieten lebenden Bewohner:innen erheblich waren. Dies erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Familien, die zu den ärmsten sozialen Schichten gehörten,wiederum einem steigenden Risiko der Ernährungsunsicherheit ausgesetzt waren. In 69,7 Prozent der Haushalte war es nach der Fertigstellung des Staudamms (im Jahr 2015) für die Bewohner schwieriger, die gewünschten Mengen und Arten von Lebensmitteln zu erhalten. Für etwas mehr als die Hälfte dieser 69,7% der Haushalte, die Ernährungsunsicherheit erleben, (also für genau 52,5%) war die Nahrungsmittelsicherheit nach dem Bau des Staudamms bereits vor Pandemiebeginn virulent. Für die anderen hat sich dieser Zustand der Verschlechterung in Fragen der Ernährungssouveränität mit der Covid-19-Pandemie eingestellt: „Regarding the accessibility of the desired amounts and types of food after the conclusion of the Belo Monte dam construction, over 69.7% of the households answered “Yes” to experiencing increased difficulty. Among those who responded positively (n = 343), 52.5% acknowledged that this challenge existed even before the onset of the COVID-19 pandemic. In other words, for 36.6% of the total valid household interviews (180 out of 492), food insecurity was already an issue following the dam construction, even preceding the pandemic.“ (IJERPH)
Zum Vergleich dieser Erhebungen führen die Autor:innen der Studie den PENSSAN-Bericht aus dem Jahr 2022 (Daten aus der Pandemie-Zeit) heran: Demzufolge, so die Autor:innen, „waren in den städtischen Gebieten Brasiliens 57,6 % der Haushalte von leichter oder mittelschwerer/schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen. Unsere Studie zeigte, dass diese Zahl in der Stadt Altamira mit 60 % noch höher lag. Wenn man bedenkt, dass das Land trotz der Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch sehr ungleiche sozioökonomische Bedingungen aufweist und ein großer Teil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, erscheint die Tatsache, dass der brasilianische Durchschnitt bei der Ernährungsunsicherheit besser abschneidet als in der Stadt Altamira, nicht nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der 6,5 Mrd. BRL (~ 1,3 Mrd. USD), die die Staudammbauer nach eigenen Angaben von 2016 bis 2022 in der Region in „sozio-ökologische und nachhaltige“ Maßnahmen investiert haben.“
Die Kritiker:innen hatten wiederholt darauf hingewisen, dass die Umgesiedelten in eine abgelegene Gegend von Altamira umziehen mussten, dass es dort keine gewachsene Sozialstruktur, eine schlechte Mobilitätsanbindung und zu wenig Arbeitsmöglichkeiten gäbe. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Umgesiedelten zuvor als Fischer:innen (zur Ernährung und zum Handel von Speise- und Zierfischen) tätig waren. Doch viele der Umgesiedelten wurden mehrere kilometerweit vom Fluss entfernt angesiedelt, und es wurden ihnen keine Ausgleichmöglichkeiten angeboten, um wieder angemessenen Zugang zum Fluss zu haben, um dort ihrer angestammten Tätigkeit nachzugehen. Hinzu kommt, dass mit der Abzweigung (vor der ersten Staustufe bei Pimental) von 80 Prozent des Wasserdurchflusses der Volta Grande in den Zulaufkanal zur zweiten Staustufe (Belo Monte) eben diese Volta Grande do Xingu nur noch 20 Prozent des vormaligen Wasserdurcflusses erlebt, – mit allen nur daraus denkbar resultierenden Folgen: weniger Fische und weniger Fischwanderungen, erschwerte Transportmöglichkeiten. Eines der mittlerweile geflügelten Worte am Xingu-Fluss in der Nähe des Staudamms Belo Monte, wie mit der Materie vor Ort eng vertraute Personen gegenüber gegenströmung wiederholt geäußert haben, ist entsprechend heutzutage die Rede von „Fischern ohne Fische“ oder „Fischer ohne Fluss“. Die schöne, neue Staudammwelt am Xingu macht es möglich.